Agilität Innovation

Das Kreuz mit der Digitalisierung: Verlernen lernen

Wie gehen wir mit Digitalisierung und Disruption um? Diese Frage bewegt regelmäßig die Management-Gemüter – auch am 26. Juni in der Trinitatiskirche in Köln bei der vierten Ausgabe des Digital Leadership Summit.

Transformation an geweihtem Ort: der Digital Leadership Summit in einer Kölner Kirche.  Fotos: Stefanie Hornung
Transformation an geweihtem Ort: der Digital Leadership Summit in einer Kölner Kirche. Fotos: Stefanie Hornung

Transformation in der Kirche

Knapp 300 Gäste waren laut den Veranstaltern angereist, um bei hochsommerlichen Temperaturen über Führungsstrategien der Zukunft zu sinnieren. Während im Kirchensaal neben der Kanzel die Keynote Speaker das Wort hatten, traf man sich einen Stock höher mit zwölf Start-ups auf der neuen Innovation Stage. 

„Purpose ist, was man tut“, sagt Claudia Willvonseder, Ikea Switzerland

„Braucht die Welt einen digitalen Inbus-Schlüssel?“, fragte Claudia Willvonseder, Vice President Ikea Switzerland, im ersten Hauptvortrag des Tages. 35 Milliarden Umsatz, 23 Milliarden Web-Visits, der größte Kunden-Club der Welt mit 140 Millionen Mitgliedern – Ikea hat eine große Bewegung ausgelöst. Der Ikea-Katalog stand jahrelang für den Traum eines schöneren Zuhause. Heute schaffen sich die Menschen ihre eigene Wohnwelt – auf Instagram oder Pinterest. Nun geht es darum, die in der analogen Welt verwurzelte Mitmachmarke in die digitale Welt zu überführen.

Purpose in Action: Im Golden Circle zur Transformationsstrategie

Der Purpose des Unternehmens sei die Kompassnadel für dieses Vorhaben, betont Claudia Willvonseder. „Purpose wird oft missverstanden. Das ist keine Schöne-Heile-Welt-Kampagne und auch keine reine HR-Idee.“ Für sie ist Purpose nichts anderes als die gute alte Unternehmensvision, im Fall von Ikea: Vielen Menschen einen besseren Alltag zu schaffen, unabhängig vom Geldbeutel.

Dabei orientiert sich das Einrichtungshaus am Goldenen Kreis von Simon Sinek, ohne ihn explizit zu nennen: Vom Why (hier: die Vision) zum How (z.B. Democratic Design, Scalability Ambitions und Schwedische Kultur) zum What (z.B. mass singularity statt mass production, die individuelle und einzigartige Verbindung zum Kunden über Datenanalysen verbessern). Für Leader heißt das laut Willvonseder: „Der Purpose ist das Narrativ, um zu erklären, warum Mitarbeiter Dinge tun sollen – die sie dann vertrauensvoll selbst umsetzen.“

Wo es hakt: Loslassen und Rückfallreflexe

„Wir müssen lernen zu entlernen“, konstatierte die Ikea-Managerin. Denn die Marschroute sei ein schmerzhafter, langwieriger Prozess. Es gelte nicht nur, digitale Talente einzustellen und Inspiration auf Konferenzen einzuholen. Viele Kollegen griffen gerade, wenn der Umsatz mal nicht so komme wie erwartet, reflexartige auf alte Muster zurück. „In einem Unternehmen mit mehr als 150.000 Mitarbeiter in 30 Ländern ist das sehr schwierig“, gab Willvonseder zu. Mit ihrem unaufgeregten Vortrag, der die aktuelle Purpose-Diskussion nicht so hochkochte wie gewöhnlich, erntete sie viel Applaus.

Ein weiteres Highlight des Programms war der Vortrag von Björn Schneider, Coach und Peoplemanager beim börsennotierten Finanzdienstleister Hypoport, der unreflektierte Agilitätsgläubigkeit auf amüsante Art und Weise bloßstellte. Wer von Komplexität am meisten umsetzen könne, sei heute am erfolgreichsten. Agilität gilt deshalb für viele als Zauberwort. Doch da lauert Schneider zufolge ein weit verbreiteter Denkfehler: dass selbstverantwortliche Menschen moderne Methoden der Zusammenarbeit ausführen und am Kicker spielen möchten. „Die Anschaffung eines Kickers führt nicht automatisch zu selbstverantwortlichen Menschen, sondern zu Menschen, die kickern.“ Dazu mixe man ein paar agile Frameworks wie Scrum oder Kanban. „Haben wir alles schon mal ausprobiert, aber festgestellt: Es fehlt noch was.“ Um Komplexität zu lösen, brauche es noch höhere Komplexität. „Am besten nehmen wir das komplexeste System, das es zurzeit gibt: den Menschen – oder noch besser: mehrere Menschen, die miteinander interagieren.“

Das Neue üben: Komplexität mit komplexem System lösen

Die Hypoport-Gruppe mit ihrem Netzwerk aus 15 Unternehmen wie Dr. Klein Privatkunden, Europace oder Smart InsurTech experimentiert deshalb mit der Organisationsform Holakratie (siehe Reportage im Personalmagazin). Knapp die Hälfte der 1.600 Mitarbeiter arbeitet schon holakratisch, gemäß der „Verfassung“, die Macht neu verteilt und die Entscheidungsfindung dezentralisiert. Alle Themen und Störgefühle regelt die Organisation in sogenannten Kreisen, die nach festen Regeln organisiert sind. In der holakratischen Struktur, die bei Hypoport im Moment noch neben der disziplinarischen und budgetbezogenen Verantwortung existiert, kommt ohne Führungskräfte aus. „Mechanismen der Macht kann man nicht durch die Einführung eines Frameworks ändern, aber man kann sie üben.“

Allerdings läuft es auch in der Holakratie nicht immer reibungsfrei. Wenn Menschen Selbstverantwortung erlernen, schafft man unbequeme Strukturen und Prozesse. „Das zwickt und zerrt an jeder Ecke. Es gibt viele Leute, die haben keinen Bock darauf“, erzählte Schneider. Holakratie gelte als kalt und emotionslos – wer da nicht aufpasse, verliere die Menschen. Ein weiteres Problem: Nicht jeder komme gleich schnell zur Meisterschaft. Schneider präsentierte ein Leadership Maturity Framework mit unterschiedlichen Stufen, auf denen sich die Menschen entwickelten. Um dies zu fördern brauche es nicht nur Zeit, sondern auch Coachs, die den Prozess begleiten. Die wichtigste Voraussetzung dafür: „einen Vorstand, der das geil findet, und das nötige Geld“ – beides ist aktuell bei dem wachsenden Finanzdienstleister vorhanden.

Das agile Pendel

Die Deutsche Telekom setzt wiederum auf ein neues Mindset der Führungskräfte, wie Christina Schulte-Kusch, VP Leadership & Culture in Köln berichtete. Agilität sei auch bei ihr im Unternehmen das große Ding, doch aller Anfang schwer. „Man muss mit der Haltung starten, nur dann haben Tools einen Impact.“

„Verhalten ist kein Schieberegler, sondern ein Pendel. In verschiedenen Momenten tendiert man zu anderen Prinzipien. Das ist unser agiler Führungsstil“
„In verschiedenen Momenten tendiert man zu anderen Prinzipien. Das ist unser agiler Führungsstil“, sagt Christina Schulte-Kusch von der Deutschen Telekom.

Das Telekommunikationsunternehmen hat sechs Dimensionen identifiziert, die dabei entscheidend sind:

1 Hold the space: das Paradox, Regeln für Freiraum zu schaffen

2 Iteration: immer wieder neu ansetzen

3 Transparenz: über Freiraum und Wissen

4 Vertrauen: in das Team und in Commitments

5 Pause & Listen: Lösungen von anderen erfragen

6 Accelerate: Führungskräfte sind Taktgeber, um schneller zu werden

In jeder Dimension hält das Unternehmen How-to-Guides mit konkreten Lösungen bereit. Die Methoden müssten sich allerdings daraus ergeben, was das Team tatsächlich brauche. Nicht die komplette Organisation müsse agil werden. „Verhalten ist kein Schieberegler, sondern ein Pendel. In verschiedenen Momenten tendiert man zu anderen Prinzipien. Das ist unser agiler Führungsstil“, sagte die Personalentwicklerin in Köln.

Als Führungskräfte sollten wir uns mehr trauen, aber auch selbst mal zurücknehmen. Nur sind wir halt in einer hierarchischen Welt groß und erfolgreich geworden.
Christina Schulte-Kusch, Deutsche Telekom

Jedes Team steige anders ein, je nachdem, wie es am meisten Mehrwert biete. In diesem neuen Aushandlungsprozess setzt Schulte-Kusch auf das vorwiegend virtuelle Executive Education Programm „Level up“, das versucht, die Top-Führungsmannschaft mit Grundsatzthemen zu erreichen. Rund 700 Teilnehmer hat sich schon durch Formate wie Deep Dives, Experte Open Hours, diverse digitale Medien und einen eigenen Summit geschleust. „Als Führungskräfte sollten wir uns mehr trauen, aber auch selbst mal zurücknehmen. Nur sind wir halt in einer hierarchischen Welt groß und erfolgreich geworden.“

Das Unternehmen als agile Flotte
FLEAT ist ein Rahmenwerk, mit dem Unternehmen schneller, innovativer und agiler werden können.
Das Buch zu FLEAT

Es ist einfach ein Kreuz mit der Digitalisierung. Dafür passte der Veranstaltungsort wie die Faust aufs Auge. Doch im nächsten Jahr zieht der DLS#5 weiter: Die Trinitatiskirche wird umgebaut und so steigt der Kongress am 18.6.2020 in neuer Location.