Thought Leaders

Gefangen im Packeis

Der Corona-Shutdown hat die Spielregeln verändert. Wie bisher geht es nicht weiter, die Gegenwart ist unsicher und die Zukunft scheint unplanbar. Was wir aus der Geschichte der gescheiterten Endurance-Expedition 1914-1916 lernen können.

Quelle: Bettmann - Die Endurance gefangen im Packeis
Quelle: Bettmann - Die Endurance gefangen im Packeis

Anpassungsfähigkeit und Entscheidungskraft zahlen sich in Krisenzeiten aus

Die Geschichte Sir Ernest Shackletons könnte man unter dem Blickwinkel des Scheiterns betrachten. All seine Bemühungen im Wettlauf um die Entdeckung des Südpols und der Antarktis zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren gescheitert. Obwohl er sein Lebensziel niemals erreicht hat, ging er als Held in die Geschichte ein – und in die modernen Managementlehren. Denn es war seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit und Führungsqualität zu verdanken, dass er jeden Mann seiner 27-köpfige Expeditionscrew nach einem zweijährigen und vollkommen aussichtslosen Überlebenskampf nach Hause führen konnte. Seine Wunderwaffen: Klare Zielsetzung, klare Aufgabenverteilung, Entschlossenheit, Routinen, innere Haltung und Mut.

Wanted, men for hazardous journey, small wages, bitter cold, long months of complete darkness, constant danger, safe return doubtful, honor and recognition in case of success.
Ernest Shackleton, London Newspaper ‘The Times’, 23 December 1913

Nachdem Amundsen als Erster den Südpol erreicht hatte, änderte Shackleton kurzerhand seine Pläne. Wenn er nicht der Erste sein konnte, der den Südpol entdeckt, dann wollte er der Erste sein, der die Antarktis durchquert. Für die gefährliche und ungewisse Reise, durch bittere Kälte in monatelanger Dunkelheit, wie er in einer Stellenanzeige der Londoner Times schreibt, brauchte er die richtigen Männer. Aus seinen vorangegangenen Expeditionen hatte er gelernt, dass es auf weit mehr ankam, als nur auf Fachwissen. Er ließ die Bewerber tanzen, singen und Gedichte vortragen. Er wollte genau wissen, wie sie mit unerwarteten Situationen umgingen. Wo lagen ihre Stärken, ihre Schwächen, aber insbesondere: Wie waren ihre tatsächliche innere Haltung und Einstellung. Wie sich zeigen sollte, traf er die richtigen Entscheidungen, besonders auf der Führungsebene. Sein Obermaat Frank Wild und Kapitän Frank Worsley trugen durch ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten und ihren Mut maßgeblich zum Gelingen der Rettungsmission bei.

A man must shape himself to a new mark directly the old one goes to ground. I pray God, I can manage to get the whole party to civilization.

Ernest Shackleton, Tagebucheintrag

Dezember 1914. Die Endurance ankert im letzten Hafen vor dem antarktischen Kontinent auf der Insel South-Georgia. Dem Ziel so nah und getrieben von Ehrgeiz und Ungeduld trifft Shackleton eine verheerende Entscheidung. Entgegen der eindringlichen Warnung der Walfänger vor dem noch immer unpassierbaren Packeis der Weddell-See, gibt er den Befehl zum Aufbruch. Im Januar 1915 ist die antarktische Küste in Sicht, doch die Endurance bleibt im Packeis stecken. Ein halbes Jahr später zerbricht das Schiff unter dem Druck der Eismassen und sinkt.

Mit dem Untergang des Schiffes galt die Expedition als beendet. Shackleton hätte sich im Bedauern seiner Fehlentscheidung verfangen können, sich damit aufhalten können zu spekulieren und zu analysieren, wie es dazu hatte kommen können. Er hätte sich entmutigen lassen können, angesichts der ausweglosen Situation, in der er sich nun gemeinsam mit 27 Männern und 67 Schlittenhunden befand. Er tat nichts dergleichen.

Mindset etablieren bedeutet Energien managen

Shackleton wusste, wenn seine Männer ihren Mut und die Zuversicht verlieren, konnte dies das Todesurteil für die gesamte Crew bedeuten. Er erstellte Dienstpläne, ordnete Arbeiten an, erteilte Befehle – Mut, Hoffnung und Zusammenhalt aber lassen sich nicht delegieren. Shackleton hatte Angst und er hatte Zweifel. „I pray, God, I can manage to get the whole party to civilization,” schreibt er in sein Tagebuch. Jeder Tag brachte neue Probleme und Herausforderungen. Jeden Tag musste er neue Lösungen finden, neue Entscheidungen treffen oder Entscheidungen hinterfragen und bisweilen korrigieren. Jede Entscheidung war immer nur ein Schritt weiter ins Ungewisse. Doch er wusste, wenn der nächste Schritt gelänge, so brächte genau dieser Schritt sie alle ihrem Ziel ein Stück näher.

For swift and efficient travel, give me Amundsen; for scientific investigation, give me Scott; but when you are at your wit’s end and all else fails, go down on your knees and pray for Shackleton
Raymond Priestley, Geologe und Antarktisforscher (1886 – 1974)


Er beriet sich regelmäßig mit Wild und Worsley. Seinen Männern trat er aber immer nur selbstbewusst, zuversichtlich und entschlossen entgegen. Mit seiner Haltung und seinem Auftreten steckte er die Männer an. Hätte er ihnen seine Angst gezeigt, hätten sie auch diese gespiegelt und verstärkt. Dessen war er sich vollkommen bewusst. Er achtete darauf, seine eigenen Energien gut zu managen, um die seiner Männer aufrecht erhalten zu können. Er zeigte stets Präsenz und Empathie. Er hörte zu und er handelte. Er ermutigte und befähigte seine Männer, damit jeder seine Aufgaben erfüllen konnte. Er kämpfte gemeinsam mit ihnen, auch wenn er es war, der die Befehle gab. Die Männer folgten ihm, weil sie ihm vertrauten. Sie hielten sich an seinem unerschütterlichen Glauben an ihre Rettung fest. Sie alle hatten ein gemeinsames Ziel, und sie wussten, dass Shackleton alles dafür gab, um es zu erreichen: „Let’s go home.“

Routinen in unsicheren Zeiten geben Stabilität und Sicherheit

August 1915. Das Eis um die Endurance verdichtet sich zunehmend, das Holz biegt sich unter dem Druck der Eismassen. Shackleton erteilt vorausschauend den Befehl zum Verlassen des Schiffes. Er lässt ein Zeltlager auf der Eisscholle errichten. Die verbleibende Nahrung und die Rettungsboote werden gesichert. Im Oktober 1915 sehen die Männer zu, wie das Schiff zwischen den Eismassen zerbricht und schließlich untergeht. Die gewohnte Umgebung ist verloren und mit ihr die täglichen Abläufe. Niemand weiß, was das Morgen bringt und es besteht keine Aussicht auf Rettung von außen. Bis April 1916 müssen sie auf dem Treibeis ausharren. Dann segeln sie in ihren Rettungsbooten zur Elephant Island, die sie nur dank Worsleys intuitiven Navigationskünsten und eisernem Willen lebend erreichen. Dort angekommen bricht Shackleton zusammen mit vier weiteren Männern auf. Ziel ist die Walfangstation, von wo aus er ein Schiff zurück zu seinen Männern schicken will. Es dauert weitere Monate, bis er seine Männer in voller Zahl an der Küste der Elephant Island wiederfindet.

Real leaders are people who help us overcome the limitations of our own individual laziness and selfishness and weakness and fear and get us to do better, harder things than we can get ourselves to do on our own.
David Foster Wallace, Schriftsteller

Shackleton baute sofort neue Routinen auf, nachdem das Schiff gesunken war. Angefangen bei der gemeinsamen Morgenroutine bis zum geselligen Beisammensein nach dem Abendessen. Wenn er sah, dass einer der Männer kurz vor dem Aufgeben war, trommelte er alle zusammen und jeder bekam einen Becher Milch zur Stärkung. So banal diese kleine Bedarfsroutine auch erscheinen mag – sie hatte mächtige Wirkung, denn sie stärkte nicht nur die Gemeinschaft, sondern auch die Moral jedes Einzelnen. Tagsüber mussten sich die Männer mit immer wieder neuen Aufgaben vertraut machen. Mit der ständigen Veränderung der äußeren Bedingungen veränderten sich auch die täglichen Arbeitsaufträge. Shackleton und seine Männer waren nahezu täglich gezwungen, sich immer wieder neu einzustellen und anzupassen. In Zeiten größter Unsicherheit, das wusste Shackleton, bilden Routinen den einzig verlässlichen Rahmen, in dem die Menschen ein Gefühl von Sicherheit und emotionaler Geborgenheit erfahren können.

Lesetipp

FORGED IN CRISES - by Nancy Koehn

A masterful, in-depth portrait of five extraordinary figures-Ernest Shackleton, Abraham Lincoln, Frederick Douglass, Dietrich Bonhoeffer, and Rachel Carson-that illuminates how great leaders are made in times of adversity and the diverse skills they summon in order to prevail.

more informations

Was können wir von Shackleton lernen?

Betrachten wir die Geschichte Shackletons in Analogie zur aktuellen Situation, dann wäre der Shutdown das Packeis, in dem Unternehmen zurzeit feststecken. Die Schiffe mussten verlassen werden, und die Arbeiten werden an anderen Orten so gut es geht fortgesetzt. Aber im Stillstand ist immer noch Bewegung – Die Notwendigkeit ermöglicht nahezu alles. Viele Unternehmen kämpfen jetzt um ihre Existenz. Sie sollten diesen Kampf nach Shackletons Beispiel führen: Mit einem einfachen, aber klaren Zielbild und Fokus auf die Zukunft. Mit Entschlossenheit, Mut und Empathie.

Aufbruch statt Zusammenbruch