Business Transformation Business Strategie

Analyse versus Intuition

Kommentar Die Digitalisierung eröffnet der Analyse unbegrenzte Möglichkeiten. Doch Analyse hat ihre Grenzen, sie kann in komplexen Situationen gar den Blick für das Wesentliche erschweren und vernünftige Entscheidungen behindern. Wenn die Situation unübersichtlich wird, schlägt die große Stunde der Intuition.

Foto: Sam Moqadam on Unsplash
Foto: Sam Moqadam on Unsplash

Die Analyse des Sisyphos

Eine fordernde Mission kann man nicht einfach beginnen. Vor dem Start gilt es, die Sachlage so gut wie möglich zu analysieren. Sisyphos[1] kam bei den antiken Griechen die Aufgabe zu, die wesentlichen Fakten zusammenzutragen und den Gegner Troja möglichst genau zu beschreiben. Er stützte sich dabei auf vorhandene Daten, doch die Fülle der Informationen aus verschiedenen Quellen machte das Unterfangen mühsam.

Eine Heldenreise in die Zukunft
Was hindert uns auf dem Weg zur Exzellenz? Was fesselt uns an Paradigmen der Industriegesellschaft, die in einer komplexen und dynamischen Wissensökonomie nicht mehr passen? Und was lehrt uns ein Blick auf antike mythologische Helden? Diesen Fragen geht Dr. Guido Schmidt an dieser Stelle in Form eines Fortsetzungsromans nach.
Teil 10 Die Zukunft ist gestaltbar

Sisyphos hatte durch zahlreiche Gespräche und die Auswertung von Schriftrollen unterschiedlichste Daten über Troja herangeschafft. Die Analyse der Stadt und ihrer Befestigungsanlagen brachte ein klares Bild der Bewohner und der architektonischen Besonderheiten. Agamemnon aber forderte immer noch mehr und noch genauere Informationen. Niemand wollte unnötige Risiken eingehen, Ziel war es, die Risiken der Mission so gering wie möglich zu halten – dank umfangreicher Analysen im Vorfeld.  Fakten sollten mit immer mehr Daten validiert werden. Die Analyse wurde so zu einer echten Sisyphosarbeit.

In einer Situation, in der es eher zu viele als zu wenige Informationen gibt, besteht immer die Gefahr, dass das Management in Analyseschleifen hängenbleibt.

Schließlich hatten die Griechen alle nur erdenklichen Informationen. Wie sie die Befestigungsanlagen von Troja überwinden sollten, wussten sie dennoch nicht. Die Schwächen der Analyse wurden immer deutlicher. Erfolg oder Misserfolg der Griechen hing am Ende an der intuitiven Einschätzung der Helden, die ein besonderes Gespür für die überkomplexe Situation hatten.

Vor allem Ajax zeichnete sich durch ein sicheres Bauchgefühl aus. Seine Lagebeurteilung machte er nur bedingt von den Analysen des Sisyphos abhängig. Er verließ sich lieber auf seine Empirie, dank regelmäßiger Rekognostizierungsritte. Ajax verstand die komplexe Situation gesamthaft. Eine Fähigkeit, die außer ihm nur Achill und Odysseus auszeichnete.

Das analytische Informationsdilemma

Jeder kennt solche Situation aus unzähligen Präsentationen und Meetings: Wann immer Fakten auf dem Tisch liegen, kommen sofort Fragen nach weiteren Details. Es beginnt eine Endlosschleife von Informationen, die durch weitere Informationen erst validiert werden sollen.

Im besten Fall vertagt sich die Runde für ein paar Tage, bis die neuen Fakten auf dem Tisch liegen. Im schlechtesten Fall wird ein Gutachten zur Beurteilung der Validität der ersten Informationen in Auftrag gegeben. Dann kann es schon mal länger dauern, bis es valide Informationen gibt. Wobei noch lange nicht sicher ist, dass das neue Gutachten akzeptiert wird.

In einer Situation, in der es eher zu viele als zu wenige Informationen gibt, besteht immer die Gefahr, dass das Management in Analyseschleifen hängenbleibt. Künstliche Intelligenz (KI) macht das Problem nicht zwangsläufig kleiner, sondern kann es sogar noch weiter vergrößern. Algorithmen können unfassbare Datenbestände durcharbeiten und in Windeseile immer neue Auswertungen vorlegen. Doch wie oft man die Daten auch auswertet, das große Bild wird dadurch nicht klarer. Denn die Lösung steckt nicht im Wissen, dass die Analysen liefern, sondern in dem holistischen Verstehen der Situation.

Es geht darum, einen komplexen Kontext richtig einzuordnen. Die Herausforderung ist das kontextuale Verstehen, nicht die Anhäufung von Daten.

Die Kraft der Intuition

Das Verhalten des Ajax war in der informationsüberladenen Situation genau richtig. Ajax verlief sich nicht in den Fängen der Details, sondern wählte einen subjektiven Weg zur Beurteilung der Situation. Das ist in komplexen Situationen absolut richtig. Auch die ausuferndste Analyse bleibt wesentlich immer eine Ausschnittbildung aller verfügbaren Daten. Wenn dieser Ausschnitt nicht mehr hilft, die Situation zu beurteilen, ist der Moment gekommen, in dem die subjektive Beurteilung von Endrücken zum besseren Verstehen der Situation führt.

Egal, wie breit wir unsere Analysen aufstellen, sie sind immer nur ein Ausschnitt der ganzen Situation.

Der Philosoph Jens Wimmers beschreibt diese Erkenntnis wie folgt: „Man könnte in diesem scheinbaren Rationalitätsdefizit auch eine Stärke sehen: Die Fähigkeit, uninformiert richtig zu entscheiden, könnte ein Hinweis auf ein Spezifikum menschlicher Intelligenz sein. Hinter dieser Kompetenz könnte sich menschliche Urteilskraft verbergen, über die KI (noch) nicht verfügt.“ [2]

Egal, wie breit wir unsere Analysen aufstellen, sie sind immer nur ein Ausschnitt der ganzen Situation. Das führt besonders dann nicht zu guten Ergebnissen, wenn die Ausschnittbildung auf reine Zahlen reduziert wird. Die Zahl mag stimmen, aber sie kann die mannigfachen Dimensionen einer komplexer Entscheidungssituation nicht abbilden.

Die Analysten können uns beweisen, dass sie richtig rechnen können. Sie können aber niemals belegen, dass sie die Lage richtig einschätzen.

Es ist daher mit zunehmender Komplexität immer absurder, an einer eindimensionalen Ausschnittbildung über die Rechenwerke der Betriebswirtschaft festzuhalten. Die Zahlenwelt entfernt sich immer weiter von der eigentlich zu erkennenden Situation. Die Analysten können uns beweisen, dass sie richtig rechnen können. Sie können aber niemals belegen, dass sie die Lage richtig einschätzen. Dieser Zusammenhang ist sogar im Rechnungswesen verankert, wenn gefordert wird, dass neben den Zahlenwerken von Bilanz und GuV zusätzlich ein Lagebericht zu erstellen ist. In diesem Teil der Darstellung sollen alle die bedeutenden qualitativen Aspekte dargelegt werden, die sich eben nicht in den Zahlen widerspiegeln.

Das unternehmerische Gespür

Das Scientifc Management will mit seinem Anspruch an Objektivität die emotionalem Aspekte in großen Organisationen unterdrücken. Die strenge Rationalität soll vor persönlichen Entgleisungen und emotionalen Fehleinschätzungen schützen. Das Management macht sich damit einen vorherrschenden, aber nicht unumstrittenen Wissenschaftsbegriff zu eigen. Wenn die reine Logik und faktenbasierte Entscheidung das Ziel der guten Unternehmensführung sind, engt sich das Management auf veraltetes, lineares und sequenzielles Denken ein.

Wer die intuitive Einschätzung zulässt, beginnt mit dem Verstehen. Intuition eröffnet ganz neue Möglichkeiten.

Deshalb wird im Management so viel von überwältigender Komplexität gesprochen. Analytisch lässt sich die Komplexität der realen Welt nur unzureichend erfassen. Intuition ist die menschliche Fähigkeit, die wesentlichen Informationen zielsicher zu erfassen und einen n-dimensionalen Kontext richtig zu verstehen. Wer die intuitive Einschätzung zulässt, beginnt mit dem Verstehen. Intuition eröffnet ganz neue Möglichkeiten.

New Management und Führung

So verstanden kommt man zu einem New Management, das wirklich neu ist. Vielleicht aber ist dieser Begriff nicht zielführend. Vielleicht sollten wir besser von guter und moderner Führung sprechen. Führung sieht den Menschen im Mittelpunkt und wertet Intuition nicht grundsätzlich ab. Der richtige Ansatz in einem überkomplexen Kontext.

 

[1]         Sisyphos (latinisiert Sisyphus) ist eine Figur der griechischen Mythologie. Er war ein Sohn des Aiolos und König in Korinth. In wenige bekannten Schriften wird er als Vater des Odysseus bezeichnet. Sisyphos zeichnete sich durch große Weisheit aus und trug stark zur Vergrößerung Korinths bei. Heute ist er vor allem als Gottesfrevler bekannt, der zur Strafe eine immer wiederkehrende Aufgabe, nämlich einen Stein den Berg hinauf zu rollen, erfüllen musste. Während über Jahrhunderte, die nicht enden wollende Aufgabe als Strafe versanden wurde, hat Albert Camus einen ganz neue Sichtweise in die Diskussion eingebracht, indem er behauptete, man müsse sich Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen, da er seine Augfabe gefunden hat.

[2]         Wimmers, Jens. Was ist wesentlich? - Orientierung in einer komplexen Welt (German Edition) (S.46). Springer Berlin Heidelberg. Kindle-Version.