Thought Leaders Business Transformation

Wir brauchen eine neue Gravitations-Theorie

Wertschöpfung und das Management der Wertschöpfung wandeln sich mit der Digitalisierung radikal. Mit tradierten Methoden und Logiken sind die neuen Komplexitäten nicht zu bewältigen. Wir brauchen eine neue Gravitations-Theorie!

Aus Hierarchien und Top-Down-Management müssen Netzwerke werden.
Aus Hierarchien und Top-Down-Management müssen Netzwerke werden.

Digitalisierung ist nicht alte Logik mit neuem digitalem Sternenstaub

Mittlerweile sollte es allen klar sein: Die sogenannte Digitalisierung ist irgendwie wichtig. Was aber auch klar sein sollte: Digitalisierung ist nicht die alte Wertschöpfungs-Logik mit digitalem beziehungsweise technologischem Sternenstaub, wie es Ralf Gräßler polemisch formulierte. Wertschöpfung und ihr Management wandeln sich im sogenannten digitalen Zeitalter fundamental. Getrieben von neuer Technologie, aber auch von neuen kulturellen Gegebenheiten (Gen X …) und neuen Komplexitäten und Komplexitätsfähigkeiten findet ein multidimensionaler Switch statt. Damit wir den neuen Komplexitäten der neuen Anforderungen der Märkte und Kunden gerecht werden können, werden

  • aus arbeitsteiligen Silos und Wertketten überlappende, kollaborative Ecosysteme und
  • aus den bisherigen Produkten vernetzte Services und Kokreationen
  • aus Hierarchien und Top-Down-Management Netzwerke und Selbstorganisation.

Vor allem werden aber die bisherigen starren Wertschöpfungen nun fluide Konstrukte, die nicht mehr durch Plan und Kontrolle existieren, sondern durch eine Anziehungskraft beziehungsweise Gravitation eines Sinns, der kreative Ecosysteme aus dem Kontext von Markt und Potenzialträgern entstehen lässt.

Ashbys Law ist da ganz eindeutig und eigentlich auch trivial: Wir können keine neuen, komplexeren Markt- und Kundenbedürfnisse mit einem Mehr an Innovation, Individualisierung und Integration („Mefferts I“) auf Basis alter Plattformen realisieren, die für stabile Massenmärkte perfekt waren, nun aber unterkomplex scheitern. Natürlich gibt es hier keinen 0 oder 1-Switch. Der Haufe-Quadrant oder die Forschungen von Frau Professor Heike Bruch lehren uns schon lange, dass nicht alle Blütenträume reifen und dass eine neue Reife beziehungsweise (Selbst)Befähigung Voraussetzung für eine neue Wertschöpfungslogik ist. Und ja, auch Köpfen wie Randolf Jessl ist in ihrem Lob der Hierarchie dann zuzustimmen, wenn in einem bestimmten Kontext weiterhin Hierarchie netto-komplexitäts- beziehungsweise wert-optimal ist. Dennoch liegt der Fokus in diesem Beitrag für das New Management Portal auf dem Neuen, zumal dieses Neue wirklich auch jenseits der Technik faszinierend ist. Ein leider immer noch vielfach unentdecktes „Neues“ ist die neue Gravitationslogik der digitalen Ökonomie.

Vor allem werden aber die bisherigen starren Wertschöpfungen nun fluide Konstrukte, die nicht mehr durch Plan und Kontrolle existieren, sondern durch eine Anziehungskraft beziehungsweise Gravitation eines Sinns.

Eine neue Logik für die Sinn-Ökonomie?!

In unseren alten „materiellen“ und „materialistischen“ Lehrmodellen der Gutenberg-, Wöhe-, You-Name-It-Ökonomie trifft Nachfrage auf Angebot beziehungsweise Entgelt auf Produkt im Rahmen stabiler, perfekter, „objektiver“ Märkte. Und Produktion kombiniert Produktionsfaktoren unter Nutzung von Betriebsmitteln, u.a. auch Menschen. Der Mensch als einzuplanendes Betriebsmittel: Das erinnert den Autor immer an Forschungszeiten an einem Lehrstuhl für CIM (so was wie Industrie 4.0), wo der Mensch auch genau das war. Was dabei außen vor bleibt: Insbesondere ab einer bestimmten Maslow-Ebene ticken Menschen und Ökonomien anders, was insbesondere in diesen digitalen und damit mehr oder weniger sozialen oder gar kollaborativen Zeiten gilt.

Die Logiken der digitalen Okönomie sind neu und anders. Es geht um Anziehung.
Die Logiken der digitalen Okönomie sind neu und anders. Es geht um Anziehung.

Der Erfolg „Exponentieller Organisationen“ wie Facebook und Youtube erklärt sich ebenso wenig mit alten Vorstellungen von Mensch und Ökonomie wie das Problem innerlicher Kündigungen, wie es von Gallup & Co dokumentiert wird, die eben deutlich machen, dass der Mensch kein Homo Oeconomicus ist, der deterministisch auf Basis von Kontrakten perfekt beziehungsweise modell- und kontraktgerecht funktioniert. Was könnte die Alternative sein?  Vielleicht eine „Ökonomie als Wissenschaft der leidenschaftlichen Interessen“, wie sie Bruno Latour und Vincent Antonin Lépinay in ihrem Werk über das noch viel zu unentdeckte Genie Gabriel Tarde skizzieren, der dieses Jahr seinen 175. Geburtstag feiert.

Auch in Deutschland brechen Unternehmen auf in Richtung Schwarmintelligenz und fluider Gravitationslogik.

Vielleicht sollten wir in diesem Jubiläumsjahr nicht nur Karl Marx neu entdecken, sondern diesen Vordenker. Vielleicht sind es ja gar nicht der Unterbau, die Produktionsverhältnisse, die die Ökonomie und die Gesellschaft bestimmen, sondern die Ideen, der "Überbau"  - wie es Suhrkamp im Rahmen der Buchbeschreibung formuliert? Nichts ist in dieser Ökonomie objektiv, alles ist subjektiv oder besser noch subjektiv und intersubjektiv, so Latour und Lépinay. Die Ideen und die Leidenschaft für Ideen oder auch der schöpferisch neu entstehende Sinn regieren die Welt. Mit Tarde stellen Bruno Latour und Vincent Antonin Lépinay natürlich Karl Marx, aber auch Feuerbach und die „Materialisten“ und „Rationalisten“ in den Schulen des Ökonomischen von den Füßen auf den Kopf. Dass der Soziologe und Philosoph Latour der Begründer der Akteurs-Netzwerk-Theorie ist, ist ebenso wenig verwunderlich wie sein Engagement für die Erforschung der kreativen Wissenschaft. Beides gehört als Erklärungsansatz und Anwendungsbereich in diesen Kontext einer neuen Logik, die auch Leidenschaften kennt.

Nachlaufende ökonomische Wissenschaft, vorauslaufende Praxis!

Das macht Hoffnung – zumindest für Soziologie und Philosophie. Die Betriebswirtschaft hätte vielleicht auch viel früher und viel mehr auf die Tardes oder Schumpeters hören sollen. Auch der Unternehmer als oft leidenschaftlicher, kreativ-zerstörerischer Schöpfer und seine Rolle als Initiator für neue Gravitation einer eben nicht wirklich stabilen Ökonomie blieb Randerscheinung.

Die Betriebswirtschaft feiert sich heute bereits, wenn sie nun für „Nudging“ Nobelpreise verleiht und sich damit auch in der Breite für die Verhaltensökonomie und neue Menschenbildern öffnet. Nobelpreisträger wie Robert Shiller fordern fundamental für ihre Community „Narrative Economics“, um den epidemischen Charakter von Ökonomien zu verstehen. Eine Zeitenwende ist das aber immer noch nicht – jedenfalls nicht in der Theorie, aber ein Hoffnungsfunke. Man hat aber dennoch den Eindruck das Wissenschaft hier schmerzhaft nachlaufend ist, wenn überhaupt. Die ökonomische Praxis ist da schon weiter. Die GAFA (Google, Amazon, Facebook, Apple, …) sind einfach erfolgreich mit der neuen „exponentiellen“ Logik, und die Futuristen um Google-Kopf Ray Kurzweil schreiben dazu Bücher wie die „Exponentielle Organisation“ – ein Werk das ganz wesentlich von Ex-McKinsey und heute Deloitte-Vordenker John Hagel und seiner Power of Pull inspiriert wurde. Und auch in Deutschland brechen Unternehmen auf in Richtung Schwarmintelligenz und fluider Gravitationslogik.

Von Power of Pull über ExOrg bis WHYral und Company Rebuilding!

Seit 1996 arbeiteten die Autoren von „The Power of Pull” um John Hagel an ihrer „Pull“-Logik. Sie verstehen unter „Power of Pull“ die Fähigkeit, Menschen und Ressourcen (fluide) anzuziehen, um Chancen zu nutzen und Herausforderungen zu meistern („the ability to draw out people to address opportunities and challenges“). Im Marketing entspricht dem z.B. der Wandel vom Direktmailing (Push) zum Content- und Ecosystem-Marketing (Pull), wo beim letzteren Ansatz der Content den potenziellen Kunden „zieht“.  Die Autoren der Exponential Organisation haben daraus eine umfassende Methodik entwickelt, bei der Massive Transformational Purpose (MTP), der Sinn bzw. Zweck im Mittelpunkt steht, um durch dessen Pull eine „Bewegung“ (Movement) zu erzeugen. Ergänzend zu dem „ziehenden“ Sinn bzw. Zweck sieht Hagel dann z.B. Narrative und sogenannte „Creative Spaces“, also kollaborative Plattformen“, für Bewegungen als essentiell an.

Im Mittelpunkt steht der Sinn, der eine Anziehungskraft ausübt, die eine Bewegung in Gang setzt. 

“Narratives provide the context and shared purpose that pull others into the movement and keep them motivated and focused as they encounter and deal with the myriad of unexpected obstacles standing in the way of meaningful change. Creation spaces provide an environment that encourages and supports local initiative in collaboration with others while also providing a much richer set of resources that these local groups can draw on, and learn from, as they mount their local initiatives.”

In Deutschland unterstützen z.B. Haufe umantis und Detecon Unternehmen dabei, Transformation auf Basis der neuen Logik beziehungsweise eine Organisation im Sinne dieser neuen Logik realisieren zu können.

Es geht um Anziehungskraft, um Magnetismus und Gravitation. 

„WHYral“ von Haufe steht für den Anspruch, bei Transformationen das „WHY“ (Sinn, Zweck!) als Company Why, aber auch Individual Why in den Mittelpunkt zu stellen und dann eben nicht auf Top-Down-Change zu setzen, wie er immer wieder scheitert, sondern auf virale Bewegungen beziehungsweise „sinnvolle Epidemien“, die von Initiatoren gestartet eine systematische Evolution erleben bis auch die „Late Majority“ aktiviert wurde. Für eine echte Transformation setzt Haufe daher nicht nur auf neue Strukturen, Prozesse und IT-Tools, sondern vor allem auf Unternehmenskultur und einen agilen Mindset. „Company Rebuilding“ von Detecon ist darin dem Haufe-Ansatz verbunden. Detecon nutzt die neue Logik nicht für eine Transformations-Phase, sondern denkt die Organisation von Konzernen, aber auch Mittelstand insgesamt in diesem Sinne neu. Dabei keimen beim Company Rebuilding neue unternehmerische Zellen getrieben von neuen Markt- oder Kompetenzchancen und lassen so anstelle der alten monolithischen Konzernstruktur sukzessiv ein Netzwerk von Zellen entstehen, die dann doppelt „magnetisch“ in Richtung Kunde und Mitarbeiter beziehungsweise Potenzialträger wirken.

Gravitation oder Magnetismus als Metaphern der Plattform-Ökonomie

Als Metapher wählen auch andere Autoren Gravitation oder Magnetismus. Auch die Evangelisten der Plattformen haben erkannt, dass dieser Wandel der Wert-Schöpfung entscheidend ist. So nennen Mark Bonchek und Sangeet Paul Choudary als Erfolgskriterien von Plattformen:

  1. Connection: how easily others can plug into the platform to share and transact
  2. Gravity: how well the platform attracts participants, both producers and consumers
  3. Flow: how well the platform fosters the exchange and co-creation of value

Als Erfolgsbausteine werden passend dazu aufgeführt:

  • The Toolbox creates connection by making it easy for others to plug into the platform. This infrastructure enables interactions between participants. …
  • The Magnet creates pull that attracts participants to the platform with a kind of social gravity. … Platform builders must pay attention to the design of incentives, reputation systems, …
  • The Matchmaker fosters the flow of value by making connections between producers and consumers. Data is at the heart of successful matchmaking …

Dass die beiden Plattform-Autoren hier operativ an Matchmaking, Incentives oder Reputation- bzw. Feedbacksysteme denken, um die Gravitation / den Magnetismus zu stärken, ist nachvollziehbar. Hier sei aber noch einmal die zentrale Rolle des WHY in WHYral betont. Aus Kundensicht nutzen eine anziehende Customer Experience und auch die unterstützende Plattform nichts, wenn nicht das Sinn- bzw. Heilsversprechen im Zentrum trägt. Hierauf ist also der konzeptionelle Schwerpunkt zu legen.

In diesem Kontext hat vor allem Disruptions-Papst Clayton Christensen mit seiner „Job to be done“-Theorie Fundamentales geleistet, um das WHY insbesondere aus Sicht des Kunden systematisch sukzessiv zu konkretisieren. Danach kann dieses anziehende WHY beziehungsweise What for aus Kundensicht der „Job“ sein, den ein Unternehmen oder ein Produkt / Service in einem bestimmten Kontext erledigen muss: “What job is your product hired to do?”. Christensen zitiert hier Levitt: „People don't want to buy a quarter-inch drill, they want a quarter-inch hole.“

Dieser Job to be done  - natürlich auf einer entsprechend abstrahierten bzw. aggregierten Ebene - kann den Ausgangspunkt für die . Eine dem entsprechende „anziehende“ Customer Experience und unterstützende Plattformen und die relevanten Daten leiten sich davon ab.

Doppelte Gravitationswirkung mit Job to be done, CX, Data Platform

Im Idealfall ziehen die Heilsversprechen („Purpose“) oder Jobs to be done und davon abgeleitete, anziehende “Experiences” und “Platforms” dann doppelt mit ihrer Gravitation sowohl in Richtung Kunde als auch in Richtung Partner. Das ist eine enorme Chance nicht nur für Start-ups. Es reicht der „Überbau“ eines Leidenschaften entfachenden „Jobs“ und ein daraus abgeleiteter „Unterbau“ (oft aus der Cloud und Crowd)), damit unternehmerische Potenziale „at Scale“ durch „sinnvolle Epidemie“ (O-Ton Haufe) quasi aus dem Nichts entstehen. Das hat mit Industrie-Logik und Gutenberg-, Wöhe-Ökonomie wenig, mit Tarde hingegen viel zu tun.

Wer also ein attraktives Sinnversprechen für sein eigenes beziehungsweise das gemeinsame Tun im Netzwerk anbieten kann und dann diese neue Gravitations-Logik nach außen und innen beherrscht, wird durch die Power of Pull und die ökonomische Kraft der kollektiven Leidenschaften Wettbewerber im alten Paradigma leicht ausboten können. Die Werkzeuge (u.a. Marketing 4.0, Exponential Organization) dafür haben wir zum Teil schon sehr lange. Das sollten die Wettbewerber der alten Logik bedenken, wenn sie mit ihrem menschen-fernen Fetisch der Effizienz- und Automatisierungs-„Digitalisierungen“ das falsche Kalb anbeten. Sie sind dann einfach nicht reif für den Einzug in das gelobte Land 😉

ACHTUNG THEORIE: Von der IPO-Ökonomie zur CN-Ökonomie

Langfristig wird die Praxis auch die ökonomische Theorie treiben und es reicht nicht durch ein wenig Big Data Minimal-Fragen in maximaler Tiefe zu reflektieren. Die Praxis wird Orientierung fordern.   

Der Autor dieses Beitrags hat vor vielen Jahrzehnten im Rahmen seiner Fraunhofer-Forschungen an einem „Anwendungszentrum für Logistikorientierte Betriebswirtschaft“ (der ersten rein ökonomisch orientierten Fraunhofer-Instanz) einen Aufbruch von der IPO-Logik (Input, Process, Output) zu einer „CN-Logik“ begonnen, die die Ökonomie eben nicht mehr als materielle Transformation (Output = Produktion(Input)) versteht, sondern als Ökonomie vernetzter beziehungsweise gekoppelter, überlappender Potenzial-Netzwerke (man kann sie auch neudeutsch Plattformen, Creative Spaces, WOL-Circle, Unternehmen … nennen), wo Wert-Schöpfung ein rekursiver Vorgang von Relevanz von Potenzialen („Matching“, „C“), Kombination („CN“) , Emergenz („CN()“) und Selbstreferenz („CN<=CN()“)  ist bzw.  kompakt ganz einfach CN <= CN()*(CN) 😉 statt O=P(I). Ein wesentlicher Mechanismus übrigens in den Netzwerken: die neue Gravitation bzw. die Power of Pull, weil manches CN() kein Automat oder digitaler Agent ist, sondern Leidenschaft besitzt. So ein CN() mit Leidenschaft nennt man übrigens normaldeutsch Mensch (oder Gruppe, …). Diese menschlichen CN machen den Unterschied.

PS: Tarde meinte passend dazu: „Die Tendenz, die ökonomische Wissenschaft zu mathematisieren, und die Tendenz, sie zu psychologisieren, sollten sich … gegenseitig stützen.“

Key Facts

Wertschöpfung und ihr Management wandeln sich im sogenannten digitalen Zeitalter fundamental.

Wir können keine neuen, komplexeren Markt- und Kundenbedürfnisse mit einem Mehr an Innovation, Individualisierung und Integration auf Basis alter Plattformen realisieren, die für stabile Massenmärkte perfekt waren, nun aber unterkomplex scheitern.

Wer ein attraktives Sinnversprechen für sein eigenes beziehungsweise das gemeinsame Tun im Netzwerk anbieten kann und die neue Gravitations-Logik nach außen und innen beherrscht, wird durch die Power of Pull und die ökonomische Kraft der kollektiven Leidenschaften Wettbewerber im alten Paradigma leicht ausboten können.