Business Transformation Business Strategie

„Können geschlossene Systeme überleben?”

Kommentar Wann erlauben Unternehmen sich endlich, zu sterben? Diese Frage stellt der FDP-Politiker Thomas Sattelberger im Podcast mit Johannes Ceh. Eine Auseinandersetzung, die gerade in Zeiten der Pandemie und Wirtschaftskrise nachhallt.

Über das Wachstumsdogma müssten wir alle nachdenken, meint Thomas Sattelberger.
Über das Wachstumsdogma müssten wir alle nachdenken, meint Thomas Sattelberger.

Vom Irrsinn des ständigen Unternehmenswachstums

Wir alle spinnen am Rad des Kapitalismus. Immer wieder neu aufgefädelt wird der Faden durch Verkündungen wie: „Die Jahresziele wurden erreicht. Sehr gut. Nächstes Jahr müssen wir aber weiter wachsen.“ Sätze wie diese kennt wohl jeder. Und die damit verbundene Frage im Kopf: Welchen Sinn soll es haben, als Unternehmen permanent weiter zu wachsen?

Es ist nie genug

Wie weit ein Unternehmen auch kommt: Die ewige Agenda lautet, noch schneller zu sprinten, noch höher und weiter zu springen. Moderne Betriebe wollen gegensteuern, indem sie ihre Erfolge feiern – beispielsweise mit Incentives: Partys, Reisen, ein finanzieller Bonus für die eigenen Mitarbeiter. Doch insbesondere Start-ups schalten im Anschluss sofort wieder in den Wachstumsmodus um.

 

Das ist durchaus nachvollziehbar, denn als junges Unternehmen gibt es in der Startphase nur einen einzigen Weg: schneller in die Höhe schießen als die anderen Gewächse um einen herum. Um in diesem Kampf um das lebensnotwendige Licht nicht im Schatten des Vergessens zu verkümmern. Die Pflanze begnügt sich später aber nicht damit, genügend Licht auf ihre Blätter zu bekommen. Sie will wuchern, immer höher und weiter. Warum? Weil es im Dschungel nun einmal so ist. Wie in der Wirtschaft von heute eben auch.

Genau hier setzt Sattelberger jedoch mit einer berechtigten Frage an: „Wann wird darüber gesprochen, dass Unternehmen ein Recht haben, zu sterben? Warum haben Organisationen und Systeme nicht das Recht auf den Tod?“

Unternehmen sollen zu Talentmagneten werden, ohne die Mitarbeiter an sich zu fesseln.“
Thomas Sattelberger, MdB

Und was erntet Sattelberger auf diese Frage? Betretenes Schweigen im Publikum, als hätte eine solche Beerdigung bereits stattgefunden. Schade, denn es sind mutige Fragen, die sich jedes Unternehmen stellen sollte. Denn sie führen zu weiteren Fragen. Geben wir uns eigentlich die Erlaubnis, mit dem Irrsinn des ständigen Wachstums aufzuhören? Können wir nicht einen Gang zurückschalten und pünktlich in den Feierabend gehen, zum Wohle aller Beteiligten? Um genau dadurch den Tod unseres Unternehmens zu verhindern?

Es geht nicht nur um die Frauenquote und Ausgleichsabgaben

Aus unterschiedlichen Richtungen denken: Das ist es, worauf es ankommt. „Wer in den Firmen ist, der wird diese Betrachtung ganz selten vorfinden. Da geht’s um Frauenquote und zahlen wir die Ausgleichsabgabe für die Nicht-Beschäftigung von Behinderten oder sonst etwas“, meint Sattelberger im Podcast.

Er verdeutlicht – zugegebenermaßen provokant – die Notwendigkeit, bei Diversity viel tiefergreifend als bisher anzusetzen. „Und hier reden wir eigentlich über etwas anderes: Ob geschlossene Systeme überlebensfähig sind oder ob Systeme so offen sind, dass man beim Denken kreisen kann.“

Der Unternehmer und Politiker spricht aus, was jeder denkt. Jedenfalls jeder, der noch die Zeit und den Mut hat, einen Moment lang nicht in das Loblied auf ewiges Wachstum einzustimmen. Wir brauchen den Freiraum, komplexere Fragen zu stellen, auf die wir zufriedenstellende Antworten finden müssen. Dann entsteht Diversity, aus der sich auch die alltäglichen Maßnahmen zur Umsetzung ableiten. Dafür müssen wir uns zuerst selbst ändern, um auch wirtschaftlich einen neuen Kurs einschlagen zu können.

Probleme des Einzelnen spiegeln sich in der Wirtschaft wider

Unsere Gesellschaft hat ein ungesundes Verhältnis zu den Themen Krankheit, Tod und Laster. Alle sollen aktiv sein und sich selbst optimieren, um die – und das ist wirklich ein unsäglicher Ausdruck – „beste Version ihrer selbst“ zu werden. Als würden wir wie Computer ständig Updates auf unsere Festplatte installieren.

Aber tun wir nicht genau das? Indem wir zum Beispiel Artikel mit Überschriften wie diesen lesen: „Die perfekte Ernährung“ oder „10 Tipps, wie du noch produktiver wirst“. Hand aufs Herz: Solche oder ähnliche Artikel haben Sie bestimmt schon häufig gelesen und sich an der Umsetzung der Tipps versucht.

Lebensfreude pur

Aber ist es nicht Lebensfreude pur, einmal alle Ernährungsregeln komplett über den Haufen zu werfen und sich den fettigen Burger zu gönnen? Sind nicht diejenigen Sonntage die schönsten, an denen wir in den Tag hineinleben und uns keinen Ausflugsplan zusammenstellen? Und genießen wir nicht den urkomischen Moment, dem Gegenüber beim ersten Date versehentlich unser Getränk auf den Schoß zu schütten? Ist das nicht etwas, woran sich ein Paar noch Jahre später lachend zurückerinnert?

Menschlichkeit ist das, was uns verbindet

Pleiten, Pech und Pannen sind Situationen, über die wir auch mal lachen können oder bei denen wir Mitgefühl mit dem Betroffenen haben. Das schafft Verbindung und Intimität, nach der wir uns sehnen. Wir haben hiernach deutlich mehr Sehnsucht als nach Wachstum, möchte ich mal behaupten.

Eine Welt, in der wir uns von der Mär dieses vermeintlich ewigen Wachstums an der Nase herumführen lassen, kommt diese Menschlichkeit abhanden. Das ist keine Larmoyanz, sondern ein gefährlicher Selbstbetrug, dem wir alle unterliegen – vom Lageristen bis zum Manager. Selbst Wachstumsfanatikern dürfte klar sein, dass dies zu nichts Gutem führt. Thomas Sattelberger schlägt einen anderen Weg vor: „Unternehmen sollen zu Talentmagneten werden, ohne die Mitarbeiter an sich zu fesseln“

Was fordern viele Unternehmen stattdessen? Loyalität. Gemeint ist damit blinder Gehorsam: Der Mitarbeiter soll vom Praktikum bis zur Pension treu ergeben im Betrieb schuften. Gefestigt werden soll das Ganze insbesondere bei den Internetfirmen durch einen merkwürdigen strukturellen Überbau: „Diese Internetgiganten, die sind ja so ‘ne Mischung aus feudal und basisdemokratisch, also sehr spitz oben und dann sehr demokratisch im Personalbauch“, kritisiert Sattelberger.

In der digitalen Ökonomie ist der Mensch sein eigener Talent-Unternehmer.
Thomas Sattelberger, MdB

Es funktioniert nicht, diesen Gehorsam bei Mitarbeitern einzufordern. Und trotzdem wird es ständig versucht. Unternehmen sollten Sattelberger zufolge lieber zu Talentmagneten werden – indem sie ihren Mitarbeitern erlauben, ihren eigenen Purpose für eine gewisse Zeit zu verfolgen und dann wieder zu gehen. So fühlen sich Menschen frei und wer sich frei fühlt, der bleibt freiwillig. Selbst wenn nicht: Dann passt es eben nicht mehr zwischen dem Mitarbeiter und dem Unternehmen. Auch das gilt es anzuerkennen.

Organisches Wachstum in unserem eigenen Tempo

Unsere Bedürfnisse, Träume, Ziele und Wünsche ändern sich ständig. Von Mitarbeitern jahrzehntelange Hörigkeit zu verlangen, ist daher absurd und verkennt die Natur des Lebens. Selbstverständlich ist der Wandel unser permanenter Begleiter. Aber in einem eigenen Tempo, das sich nicht künstlich beschleunigen lässt. Doch es gibt einen Weg, in sein eigenes, persönliches Tempo für Wachstum zu kommen: „In der digitalen Ökonomie ist der Mensch sein eigener Talent-Unternehmer.“

Diese Idee, die Sattelberger anspricht, klingt für viele Angestellte sicherlich überfordernd. Noch. Denn diese Überforderung basiert auf Ängsten und Annahmen, die das Unternehmertum bzw. die Selbstständigkeit wie ein großes, unzähmbares Monster erscheinen lassen.

Dabei war es noch nie so einfach wie heute, Unternehmer oder Freelancer zu werden. Oder sich wieder fest anstellen zu lassen. Es geht auch nicht darum, die Selbstständigkeit zu glorifizieren und das Angestelltenverhältnis zu verteufeln.

Das eigene Leben wandeln und damit gesellschaftliche Veränderungen anstoßen

Immer mehr Menschen verändern ihre Gewohnheiten: Sie kaufen Bio-Produkte, meiden Plastik oder fahren mit dem Rad statt mit dem Auto zur Arbeit. Diese vielen kleinen Wandel helfen in Summe dabei, das Zusammenleben in unserer Gesellschaft zu verbessern. Damit wir gemeinsam an den Herausforderungen auf allen Ebenen – politisch, sozial, wirtschaftlich – wachsen können.

Dafür ist es an der Zeit, das eigene Arbeitsleben auf den Prüfstand zu stellen, und zwar gründlicher und radikaler als je zuvor. Damit wir uns trauen, vielfältige Modelle zu leben und auszuprobieren, um in unserem eigenen Tempo zu wachsen. Die Pandemie und Krise ist nichts anderes als ein Weckruf genau dafür: Schaut hin. Spürt hin. Was ihr ins Leben bringt. Wenn Unternehmen ein entsprechendes Klima schaffen, in dem genau das möglich ist, dann entsteht Diversity. Vielleicht werden genau dadurch sogar weniger Unternehmen sterben und stattdessen aufblühen. Ganz sicher sogar.