Business Strategie Talent Management

Young Talents allein sind nicht die Lösung

Kommentar Die Welt der Informationstechnologie wandelt sich seit Jahren immer schneller und schneller. Wie stellen sich IT-Verantwortliche von heute dieser Wandlungsgeschwindigkeit, den Anforderungen der neuen Arbeitswelt und behalten ihren IT-Zoo aufgeräumt? Andreas Plaul berichtet aus seinem Alltag als CIO. Diesmal: „Young Talents allein sind nicht die Lösung“

Foto: Edgard Motta on Pexels
Foto: Edgard Motta on Pexels

Allheilmittel

Der Arbeitsmarkt spitzt sich besonders in der IT immer weiter zu. Erfahrene Fachkräfte lassen sich über passives Recruiting kaum noch erreichen, die Lohnkosten steigen jedes Jahr und durch hybride Arbeitsweisen stehen den bisher ortsgebundenen IT-Mitarbeitenden neue Arbeitsumfelder offen. Jede IT-Führungskraft fragt sich daher, wie sie die Handlungsfähigkeit ihrer jeweiligen IT-Organisation für die nächsten Jahre bewahren kann. Und die Antwort lautet viel zu oft: „Young Talents“.

Die Fokussierung auf Young Talents allein ist keine Zukunftsversicherung gegen den Fachkräftemangel in der IT. Meist bewirken diese Initiativen sogar das Gegenteil.

Die Antwort erscheint einfach und klar, ist aber in der Praxis zu eindimensional. Die Fokussierung auf Young Talents allein ist keine Zukunftsversicherung gegen den Fachkräftemangel in der IT – meist bewirken diese Initiativen sogar das Gegenteil. Das möchte ich an einem Beispiel erläutern:

Im Rahmen einer Initiative rekrutiert ein Unternehmen mehrere junge Talente früh nach dem Studium oder der Ausbildung. Eine direkte Ansprache auf Augenhöhe, ein attraktives und faires Einstiegsgehalt sowie der Ausblick auf Entwicklungsmöglichkeiten wecken das Interesse der Talente für das Unternehmen. In direkten, kurzen, aber intensiven Interviewrunden entscheidet man sich für Bewerber:innen mit hoher Eigenmotivation und dem passenden Mindset. Der Beginn der Zusammenarbeit verläuft sehr positiv. Die jungen Talente erhalten Freiheiten und Förderung. In Schulungen lernen sie einiges dazu und sie erledigen erste Linienaufgaben.

Nach drei Jahren dann der Schock: Die jetzt vollständig wertbeitragenden jungen Talente verlassen nacheinander das Unternehmen. Die Investition war nicht nachhaltig, Rollen sind wieder unbesetzt, der Nachbesetzungsdruck zehrt an der Organisation und der Frust steigt. Der Talent Gap wächst. Doch was ist passiert?

Mit dem Wert für das eigene Unternehmen steigt direkt auch der Wert des Talents am Arbeitsmarkt. Der Wettbewerb verschärft sich und es erhöht sich das Risiko, jemanden an die Konkurrenz zu verlieren.

Schauen wir uns das Beispiel genauer an. Die Initiative hatte einen Zweck: die Zukunft zu sichern. Die Talente wurden früh in ihrer beruflichen Entwicklung angeworben und durch Förderung „veredelt“. Sie gewannen an Wert. Damit sind wir aber zurück beim anfänglichen Problem – mit dem Wert für das eigene Unternehmen steigt direkt auch der Wert des Talents am Arbeitsmarkt. Der Wettbewerb verschärft sich und es erhöht sich das Risiko, jemanden an die Konkurrenz zu verlieren. Deren Angebote sind häufig mit signifikanten Gehaltssteigerungen verbunden. Wie können wir also weitermachen, ohne auf diese Talente zu verzichten oder ständig an der Gehaltsspirale nach oben zu drehen?

Leben im Hier und Jetzt

Young Talents sind keine Zukunftsversicherung und Talente sind keine Ware. Sie sind zuallererst Menschen, die Ihren Lebensweg gestalten. Die Kolleg:innen in der IT sind Menschen aller Altersgruppen mit einer Leidenschaft für Technologie und Fortschritt. Wir begleiten diese Menschen in verschiedenen Phasen ihres Lebens. Jede dieser Phasen bringt einen Wert für das Unternehmen. Die Kunst: eine wertschöpfende, attraktive und sinngebende Umgebung für Menschen in allen Phasen zu gestalten.

Gehen wir zurück zum oberen Beispiel. In den folgenden Punkten möchte ich auf die enttäuschten Erwartungen an Young Talents hinweisen:

  • Eine einzelne Initiative füllt nicht den Talent Gap. Es braucht einen kontinuierlichen Umgang mit Mitarbeitenden, die neu ins Unternehmen kommen, die es wieder verlassen und die vor allem schon dort arbeiten. In einer IT als lebendem Organismus mit unterschiedlichen Aufgaben braucht es regelmäßig neue Mitarbeitende, neue Fähigkeiten und Weiterentwicklung.
  • Menschen sollten nicht zu lange nur als „Lernende“ auf eine neue Funktion vorbereitet werden. Sie sollten vom ersten Tag an eine gehaltvolle Funktion im Unternehmen einnehmen. Eine zu lange Vorbereitungsphase frustriert und verfestigt soziale Rollen innerhalb der Gruppe.
  • Mitarbeitende brauchen nicht nur ein großes Zielbild, sie sollten ständig ihren Wertbeitrag erkennen. Aus diesem Selbstverständnis können sie ihre Entwicklung gestalten.
  • Menschen wachsen nicht in das Unternehmen hinein, sondern das Unternehmen wächst an den Menschen im Unternehmen. Mitarbeitende gestalten aktiv und gemeinsam die DNA, die Kultur des Unternehmens

Was heißt das konkret?

Ich rate jeder IT-Führungskraft, eine kontinuierliche Organisationsentwicklung zu etablieren. Der Fokus sollte darauf liegen, einzelne Mitarbeitende einzubeziehen. Unabhängig von der Seniorität, der jeweiligen Lebensphase, lassen sich individualisierte Erfolge erzielen und Motivationen anheben. Ich rate aber auch zu einem aktiven Recruiting neuer und junger Talente. Wenn wir Angebote für Talente schaffen, die offen für einen Wandel sind, und diese dann fördern, ergibt sich die Chance für längerfristige Bindungen. Das Kommen und Gehen im Unternehmen zu akzeptieren, die Lebenszeit im Unternehmen für Mitarbeitende gezielt positiv zu gestalten: Dieser Wille bei Führungskräften ermöglicht ein echtes Management des Talent Gaps.

Das Kommen und Gehen im Unternehmen zu akzeptieren, die Lebenszeit im Unternehmen für Mitarbeitende gezielt positiv zu gestalten. Das ermöglicht ein echtes Management des Talent Gaps.

Im Erwachsenenalter identifizierte der Sozialökonom Bernard Lievegoed sechs Lebensphasen, die sich unterschiedlich auf die berufliche Orientierung und Weiterentwicklung auswirken. Da wir ständig entscheiden müssen, wie wir das morgen gestalten, ist die jeweilige Lebensphase relevant für die Frage, wie eine Entscheidung aussehen würde. Was heute passt, ist morgen vielleicht schon nicht mehr das Richtige. Diese Phasen decken sich möglicherweise nicht immer gleichermaßen mit den Bedürfnissen des Unternehmens.

Ich halte es daher für notwendig, bestehende Denkmuster zu Personalentwicklung und -gewinnung immer wieder zu hinterfragen. Menschen entwickeln sich weiter und damit auch Teams. Organisationen müssen wandlungsfähig sein. Firmengrenzen werden fluide. Das richtige Talent kann ein Unternehmen schon in Workshops oder Trainings kennenlernen, noch vor der Mitarbeit im Unternehmen. In Frage kommen auch gemeinsame Initiativen mit anderen Firmen, um den Mitarbeitenden neue Perspektiven zu eröffnen. Ganz nach dem Motto: Gemeinsam ist es einfacher.

Talente kommen von überall, sie haben einen unterschiedlichen Hintergrund. Und das ist auch gut so. Für gegenseitigen Verständnis braucht es Offenheit für das Neue und Andere. Das gibt uns die Inspiration, die wir brauchen, um langfristig erfolgreich zu sein. Dazu brauchen wir besonders am Anfang eine große Bereitschaft, den Talenten zuzuhören, um sie zu verstehen und einen gemeinsamen Weg zu erarbeiten.

Das klassische Onboarding

Drei Jahre lang Kaffee holen und über die Schulter schauen, das hat ausgedient. Konkurrenzdruck, Kulturwandel und der Wunsch nach einem hohen Engagement erfordern eine andere Art des Onboardings. Talente bringen eigene Vorstellungen, Wünsche und Erfahrungen mit ins Unternehmen. Und diese müssen angewendet und erprobt werden. Natürlich in einem sicheren Umfeld, aber mit der Erlaubnis und Notwendigkeit zu scheitern. Nach dem Scheitern folgt schließlich das Lernen und die Weiterentwicklung.

Wir in der Haufe Group konnten in einer gesunden und vertrauensvollen Umgebung gute Erfahrungen sammeln. In unserer Community of Practice (CoP) „Tech Talents“ begleiten wir Talente beim Entfalten ihrer eigenen Fähigkeiten. Ein Beispiel ist der „One.IT Day“:

Wir lieben die Möglichkeiten der hybriden Arbeit, vermissen aber die menschliche Nähe, den physischen Austausch und das direkte, gemeinsame Arbeiten. Daher planen wir im Sommer den sogenannten One.IT Day. An diesem Tag geht es um den Einblick, Ausblick und Detailblick auf Themen der IT, von der IT für die IT. Wir beschäftigen uns dort mit uns selbst. Bei Vorträgen, in gemeinsamen Workshops, Breakout Sessions, bei Pizza und Bier teilen wir unsere Leidenschaft für Technologie. Und das mit einer gehörigen Portion „nerd culture“.

Bei Vorträgen, in gemeinsamen Workshops, Breakout Sessions, bei Pizza und Bier teilen wir unsere Leidenschaft für Technologie. Und das mit einer gehörigen Portion nerd culture.

Um diese Kultur bewusst zu fördern, etablierten wir ein temporäres DevOps-Team aus Young Talents mit einem Auszubildenden und zwei Praktikant:innen für die Anwendungsentwicklung, die mit einem Product Owner und einem Teamlead zusammenarbeiten. In einem Innovation Sprint stellten wir das Problem IT-Kultur ins Zentrum, mit der Frage „wie können wir entsprechend die nerd culture des One.IT Day steigern“? Innerhalb der ersten zwei Tage analysierten und verstanden die Teammitglieder das Problem, am dritten Tag entwarfen sie ein Design für eine App. An Tag vier implementierten sie den Prototyp mit Figma und am fünften Tag präsentierten sie die Ergebnisse.

Was war das Ergebnis? Angelehnt an Text-Adventures der 80er und 90er Jahre entstand eine App, die ihre User durch den IT-Tag führt. Im Dialog mit einem digitalen Avatar wählen sie Veranstaltungen aus und lernen mehr über die Vorträge. Mithilfe spontaner Quizzes und Jingles werden die User einbezogen, Gewinne werden via Gamification an die Teams ausgeschüttet. Das hört sich cool an, ist aber nicht der eigentliche Erfolg.

Wir haben Verantwortung abgegeben, Mitarbeitende haben auf Augenhöhe gemeinsam etwas entwickelt und Identifikation für das Unternehmen geschaffen. Jedes Talent konnte seine soziale Position im Unternehmen ausbauen und sich selbst verwirklichen. Direkte Erfolge und Partizipation in der IT und im Unternehmen schaffen Zufriedenheit und ein gesundes sozioökonomisches Umfeld. Kurzum: Die App hat uns menschlich weitergebracht.

IT als Spielplatz

Der „One.IT Day“ ist nur ein Beispiel. Natürlich braucht die IT neue Fachkräfte und nicht jedes Problem lässt sich mit Selbstverwirklichung lösen. Es braucht erfahrene Mitarbeitende und Ressourcen. Aber das allein ist nicht nachhaltig. In einer sozialen Gruppe wie einem Unternehmen braucht es Vielfalt: junge Talente, Quereinsteiger:innen, kurze wie lange Wegbegleiter:innen, Fachkräfte, Führungskräfte und viele mehr.

IT-Leadership heißt offen zu sein, Möglichkeiten zu schaffen und den Wandel anzunehmen. Jeden Einzelnen als Teil des Ganzen zu respektieren und frei wirken zu lassen.

Das alles lässt sich nicht immer planen. Und der Markt hält nicht immer die gewünschte Lösung bereit. IT-Leadership heißt offen zu sein, Möglichkeiten zu schaffen und den Wandel anzunehmen. Jeden Einzelnen als Teil des Ganzen zu respektieren und frei wirken zu lassen. Mit dieser menschorientierten Herangehensweise können wir IT-Teams auch noch 2022 aktiv gestalten und entwickeln.