Business Strategie Digitalisierung

Kontrollverlust als Prinzip

Kommentar Die Welt der Informationstechnologie wandelt sich seit Jahren immer schneller und schneller. Wie stellen sich IT-Verantwortliche von heute dieser Wandlungsgeschwindigkeit, den Anforderungen der neuen Arbeitswelt und behalten ihren IT-Zoo aufgeräumt? Andreas Plaul berichtet aus seinem Alltag als CIO. Diesmal: „Kontrollverlust als Prinzip“

Was ist IT? 

Neulich habe ich gezeigt, dass IT kein Selbstzweck im Unternehmen ist – sie stellt sicher, dass das Unternehmen in seinen Abläufen effizient funktioniert und stellt die Erlebniszufriedenheit der Mitarbeitenden, die IT nutzen, in den Mittelpunkt. Ihre Daseinsberechtigung liegt in der Akzeptanz im Unternehmen – nur wenn Menschen gerne mit der IT arbeiten, kann die IT ihre effiziente und wertbringende Wirkung entfalten.  

Dazu stelle ich mir die IT gern als Zoo vor. Sie schafft Fähigkeiten, heute oft Capabilities genannt, und ist damit wie ein Zoo, in dem Tiere unterschiedlichster Herkunft, Form und Lebensart leben. Diese Tiere müssen den Zoobesuchern zugänglich gemacht werden, mithilfe einer Infrastruktur aus Wegen, Kommunikation und sinnvoller Verknüpfung. Im Zoo ist der Besucher der Kunde, im Unternehmen sind es die Menschen, die IT verwenden, um zu arbeiten und Mehrwerte zu schaffen 

Nur wenn Menschen gern mit der IT arbeiten, kann diese ihre effiziente und wertbringende Wirkung entfalten.  

Ein Zoo ist nur dann erfolgreich, wenn er die Bedürfnisse seiner Bewohner und der Kunden erfüllt. Zu kleine Gehege, nicht artgerechte Haltung, fehlende Interaktionsflächen für Tiere und Vernachlässigung führen schnell in eine Abwärtsspirale. Ein Zoo muss die Tiere und die Kunden verstehen. Doch was heißt das für den Zoo der IT?  

IT hat zwei Teile

Zunächst einmal: Die IT besteht immer aus zwei Teilen. Der eine Teil, der Basisbetrieb, unterscheidet sich von Unternehmen zu Unternehmen ähnlicher Größe nur in einem geringen Maße. Er stellt die Arbeitsfähigkeit jedes modernen Unternehmens her und umfasst die Realisierung der Prozessabläufe, der Endgeräte, der Zusammenarbeit oder auch die gesamthafte IT-Service-Infrastruktur. Ob eine IT für ein Technologie- oder ein Industrieunternehmen arbeitet, ändert an dieser Tatsache nichts Grundlegendes. Der Umfang, aber auch die Ansprüche an Professionalität können sich wegen der Nutzerzahl unterscheiden, nicht aber die Themen. 

Aber natürlich gibt es einen unternehmensspezifischen Teil für die IT. Hier muss die IT das Unternehmen in seiner Wertschöpfungskette verstehen und sich in die produktorientierten Prozesse integrieren. In einem Technologieunternehmen stehen zum Beispiel Lösungen und Prozesse zur Entwicklung und Inbetriebnahme von Technologie, DevOps, im Vordergrund. Bei einem Industriehersteller kann hier die Verbindung und Automation von Sensoren mit Serviceprozessen im Fokus stehen. Das Verständnis der Wertschöpfungsprozesse steht im Mittelpunkt. 

Verstehe ich das Business? 

Die IT ist oft Teil der Corporate Services, erbringt also Leistungen für das gesamte Unternehmen und hat den Auftrag, unternehmensweite Lösungen anzubieten, die synergetisch wirken. Das Business hat seinen Fokus auf den jeweiligen Märkten. Diese Ausrichtung des Business am Markt schafft tiefes Verständnis für die Endkunden und sichert die Ausrichtung aller Prozesse und Produkte auf deren Bedürfnisse. 

Die Unterschiedlichkeit der Business Groups zu verstehen und sich bewusst dafür aufzustellen, ist eine Kernaufgabe der IT

Meist ist das Business nicht eindimensional – in einem Unternehmen mit einem diversifizierten Produktportfolio existieren oft eine Reihe von Business Groups, die unterschiedliche Kunden ansprechen, und so auch in Krisenzeiten einseitige Risiken reduzieren. Diese Diversität ist bewusst nicht synergetisch, da zu viel Effizienz und Reduktion von Komplexität die Handlungsfähigkeit und somit den Fokus gefährden.  

Business Groups brauchen Autonomie

Um am Markt zu agieren, benötigen die jeweiligen Business Groups ein hohes Maß an Autonomie. Wo für die eine eine gemeinsame Arbeit über herkömmliche IT-Lösungen ausreicht und etabliert ist, benötigt die andere Business Group vielleicht spezifischere Anwendungen für ihre Design- und Kommunikationsprozesse. Selbst bei Finanz- und Controlling Anwendungen können die unterschiedlichen Geschäftsmodelle große Unterschiede in den Backoffice-Prozessen erzeugen. Das klassische Vertragsmodell mit Großkunden hat z.B. geringere Anforderungen an die Geschwindigkeit der Abrechnungsprozesse als SaaS-Dienste, bei denen Kunden, oft auch aus dem erlebten Konsumentenverhalten bei Online-Retailern, in Echtzeit neue Subscriptions abschließen und damit Kundenstammdaten erzeugen können. 

Diese Unterschiedlichkeit der Business Groups zu verstehen und sich bewusst dafür aufzustellen, ist eine Kernaufgabe der IT und hilft, sich vor einem zu großen Begehren nach Einheitlichkeit zu schützen. Ebenso lassen sich externe Einflüsse aus Regulatorik oder Standards besser auf das Unternehmen anpassen. Aber nicht nur zwischen den Business Groups gibt es Unterschiede, sondern auch innerhalb der Bereiche können verschiedene Geschäftsmodelle die IT fordern. 

Die drei Horizonte

Besonders am Beginn ihrer Entwicklung brauchen disruptive Produkte und Geschäftsmodelle Agilität und Geschwindigkeit. Sie müssen in einem volatilen Marktumfeld entsprechend agieren und reagieren können. Geoffrey Moore nennt diese Gruppe von Produkten in seinem Buch „Zone to Win“ auch Horizon 3, die „incubation zone“. Hier spielt Synergie eine untergeordnete Rolle. Ein zu früher Fokus auf Reduktion von Kosten und Risiken führt zwangsläufig zum Misserfolg. Die IT hält sich zurück und berät, soweit Knowhow vorhanden ist, unterstützt das Produktteam bei Fragen und eröffnet Zugänge zu Märkten durch Partner und das eigene Netzwerk. Diese Produkte sichern den zukünftigen Erfolg des Unternehmens, wenn sie Horizon 3 erfolgreich verlassen und dann das Produktportfolio bereichern. 

Entsprechend befinden sich im Horizon 2, der „transformation zone“, die Produkte, die sich als marktrelevant erwiesen haben und nun mit aller Kraft wachsen, mit dem Ziel, ein erfolgreiches und nachhaltiges Geschäftsmodell zu etablieren. Dieses Wachstum ist mit Investitionen und Wachstumsschmerzen verbunden. Häufig müssen in kurzer Zeit viele Prozesse definiert werden.  

Das Produkt benötigt die Unterstützung des gesamten Unternehmens. Auch hier verbietet die IT nicht, sondern unterstützt, versteht das Produkt, nimmt Wachstumslast ab, und macht sich bereit, das Produkt beim Übergang in die nächste Zone umfänglich zu begleiten. In dieser Phase bleibt eine große Autonomie wichtig, damit das Produkt am Markt besteht und nicht verdrängt wird. 

IT kann Produktivität heben

Horizon 3 und 2 dienen der nachhaltigen Entwicklung des Horizon 1, der „performance zone“. Wenn Produkte erfolgreich wachsen und sich als rentables Geschäftsmodell etablieren, dann tragen sie das Unternehmen nachhaltig. Mit der Zeit können Produkte und Abläufe optimiert, Kosten gesenkt und Synergien gehoben werden. Oft sprechen wir dann vom Bestandsgeschäft. Mit ihrem synergetischen Wirken kann die IT hier maßgeblich zum Erfolg beitragen und die Produktivität heben.  

Folgende Erkenntnisse leite ich daraus für meine Arbeit ab: 

  • Wenn das Business eine hohe Autonomie lebt, muss sich IT anpassen 
  • IT kann und will mehr als „nur“ Dienstleister sein, muss aber geschäftsverstehend agieren 
  • IT muss sich die Wertschätzung des Business verdienen: 
    • Weg von „du musst mit mir arbeiten“ 
    • Hin zu „ich will mit dir arbeiten“! 

Was bedeutet das für die IT? 

Ich glaube daran, dass der Weg zum Erfolg die Akzeptanz und Gestaltung dieser Realität ist. Klar will eine IT gerne Vieles mitgestalten, einen Platz am Tisch haben, technologische Entscheidungen forcieren, Komplexität reduzieren und an bewährten Lösungen festhalten. So wäre es als IT-Entscheider einfach, sich im Unternehmen zu bewegen. Aber das führt nicht zum Erfolg des Unternehmens – und nur die Klarheit über die Rolle der IT in der Wertschöpfungskette ermöglicht gemeinsame Handlungsspielräume. 

Diese Klarheit und Akzeptanz bringt aber auch viele Anforderungen, denn die Unterschiedlichkeit im Unternehmen will aktiv gestaltet werden Besonders für die Arbeit in Unternehmen mit umfangreichen Geschäftsmodellen ist eine professionelle IT unerlässlich. Sie muss agil und wandlungsfähig sein, soll unterproportional zum Umsatz zu wachsen. Daher muss sich die IT mit Prozessen, Systemen und Teams als skalierbare Services und Fähigkeiten entwickeln.  

Die Diversität des Unternehmens muss sich auch in der IT widerspiegeln. Es braucht Fähigkeiten und den passenden Mindset in den klassischen IT-Funktionen, aber auch Kreativität, Marktverständnis und Wissen über Geschäftsprozesse.

Auch beim Einsatz von Technologie bestehen Risiken. Damit das Business den Fokus auf erfolgreiche Produkte bewahren kann, sind häufig Experten zur Absicherung der Risiken in den Corporate Services verortet. Allerdings schützt eine schnelle und agile Produktorganisation nicht vor allen Risiken für das gesamte Unternehmen. Ohne Risiken kann man aber auch keine neuen Produkte positionieren. Also müssen die Risiken gut abgewogen werden: Welchen Risikoappetit braucht man für den Erfolg und welche Risiken sind gefährlich für das gesamte Unternehmen und bedrohen auch das Bestandsgeschäft? Für diese Abwägung vor allem bei Themen mit Technologiekontext braucht die IT einen weiten Überblick und muss ihre Funktion als Teil der Unternehmensgovernance ausüben.  

Die Diversität des Unternehmens muss sich auch in der IT widerspiegeln. Es braucht Fähigkeiten und den passenden Mindset in den klassischen IT-Funktionen, aber auch Kreativität, Marktverständnis und Wissen über Geschäftsprozesse. Ich glaube, dass wir das erreichen können, wenn die IT ein eigenes Profil entwickelt und so ihre Rolle in der Wertschöpfung ausgestaltet.  

Aus Kontrolle wird Überblick

Nicht alles auf die gleiche Weise regeln, Unterschiedlichkeit zulassen, Autonomie der Business Groups akzeptieren – das riecht nach Kontrollverlust der IT. Natürlich ist die These kontrovers, Kontrollverlust zu propagieren. Wer gibt schon gern Kontrolle auf? Das ist ein Risiko. Aber zu viel Kontrolle ist ein viel größeres Risiko. In meinen Augen sollte sich Kontrolle in Überblick wandeln. Wenn die IT erkennt, dass sie nicht alles kontrollieren, wissen oder selber machen muss, was mit Technologie zu tun hat, erlaubt sie dem Unternehmen, kreativ, vielfältig und gesund zu wachsen. Nur so kann sich IT wertorientiert fokussieren.