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„Marken haben eine gesellschaftliche Aufgabe“

Entscheidend sei die Antwort auf die Frage, wofür sich eine Marke stark machen will. Sagen die Markenexperten Nina Rieke und Hans-Christian Schwingen. Unternehmen könnten sich der gesellschaftlichen Verantwortung ihrer Marken nicht entziehen: "Es geht um ein klares Commitment."

Marken sind kein leeres Blatt Papier. Sie spielen eine wichtige gesellschaftliche Rolle.  Foto: Florian Klauer on Unsplash
Marken sind kein leeres Blatt Papier. Sie spielen eine wichtige gesellschaftliche Rolle. Foto: Florian Klauer on Unsplash

Marken jenseits des Unternehmenskontexts

Frau Rieke, Herr Schwingen, in Ihrem Buch gehen Sie der Frage nach, wie Werte Marken stark machen. Bevor wir dazu kommen, würde ich gerne wissen: Ist Marke etwas, das vor allem Unternehmen brauchen, oder braucht vor die Öffentlichkeit Marken?

Nina Rieke: Das ist eine Wechselbeziehung, das Eine braucht das Andere. Marken sind schon lange nicht mehr auf einen Unternehmenskontext beschränkt. Heute finden sich Marken überall, vom Entertainment bis in die Politik. Es gibt ja auch starke Personenmarken. Wir sehen einen Bedarf nach Marken, den Wunsch nach Marken, die Orientierung geben. Nach Marken, die Identifikationspotenzial bieten. Dieser Bedarf existiert schon eine Weile, aber gerade heute, in einer Zeit, in der das Vertrauen in Institutionen schwindet, sind wir noch mehr auf der Suche nach solchen Leuchttürmen.

Die Menschen erwarten von Unternehmen regelrecht, dass diese das Thema Nachhaltigkeit in die Hand nehmen und vorantreiben.
Hans-Christian Schwingen
Nina Rieke
Nina Rieke, Managing Director Whatsnextnow

Hans-Christian Schwingen: Nehmen wir das Thema Nachhaltigkeit, das zunehmend an Bedeutung gewinnt für unser Leben und für unser Überleben. Das Meinungsinstitut Forsa kommt in einer jüngeren Studie zum Ergebnis, dass die größte Wirkung in puncto Nachhaltigkeit für Gesellschaft und Umwelt vor allem den produzierenden Unternehmen attestiert wird – vor Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen und vor der Politik. Die Menschen erwarten deshalb von Unternehmen regelrecht, dass diese das Thema in die Hand nehmen und vorantreiben. Schon laut der Edelman Earned Brand Study von 2018 glaubten 54 Prozent der Befragten, dass Marken eher in der Lage seien, die gesellschaftlichen Probleme anzupacken als die Politik oder andere Institutionen. Unternehmen und ihre Marken sind wesentlicher Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Deswegen betonen wir in unserem Buch, dass Marken Gesellschaftsgestalter sind.

Auf diesen Punkt kommen wir noch zu sprechen, zuvor aber noch eine andere Frage. Sie schreiben, die entscheidende Frage sei, wofür sich eine Marke stark machen wolle, wofür sie brennen solle. Warum aber muss eine Marke überhaupt für etwas brennen, außer dass sie den Absatz fördern soll?

Schwingen: Weil wir nicht mehr im Zeitalter des Shareholder Values leben wie noch Ende des 20. Jahrhunderts. Heute rückt der Stakeholder Value ins Zentrum, der alle Teilnehmer:innen am gesellschaftlichen Leben einbezieht – zumindest in der Theorie. Ein Unternehmen kann es sich gar nicht mehr leisten, den Geschäftsauftrag von einer gesellschaftlichen Verantwortung zu trennen. Der Druck auf Unternehmen, in dieser Hinsicht zu liefern, wird immer größer. Nur dem Profit hinterherzurennen ist keine alleinige Daseinsberechtigung. Gewinn ist das Ergebnis nachhaltigen Wirtschaftens, der es Unternehmen ermöglicht zu investieren und zu wachsen. Die gesellschaftliche Verantwortung, und zwar nicht nur als Add-on zum eigentlichen Geschäftsgebaren, hat mittlerweile eine enorme Bedeutung für Verbraucher:innen. Und das spiegelt sich in der Marke.

Hans-Christian Schwingen
Hans-Christian Schwingen, früherer Chief Brand Officer Deutsche Telekom, heute Markenberater

Welche Rolle muss Markenführung spielen?

Schwingen: Nach unserem Verständnis eine höhere, als sie vielleicht heute vielfach spielt. Das zeigt sich schon daran, wo „Marke“ in einer Organisation aufgehoben ist. Gilt sie als Wurmfortsatz des Marketings oder des Vertriebs oder ist Marke direkt beim CEO angesiedelt und damit der verlängerte Arm der Unternehmensstrategie? In unserer Theorie sollte Marke selbstverständlich Bestandteil der Unternehmensstrategie sein. In der Praxis finden Sie das aber nicht immer.

Marke gehört also zum CEO, aber wer, Frau Rieke, soll sich um die Marke kümmern? Brand Experience oder eine kleine Stabstelle rund um den CEO oder sollte das Thema möglichst breit im Unternehmen verankert sein und viele Menschen in Markenbildung und Markenführung involvien?

Rieke: Sowohl das Eine als auch das Andere. Es ist sehr sinnvoll, die Marke direkt in der Unternehmensleitung zu verankern. Die enge Zusammenarbeit zwischen Chief Executive Officer und Chief Marketing Officer ist unabdingbar. Nichtsdestoweniger ist es entscheidend, dass die Menschen in einer Unternehmung Marke leben und ein Markenerlebnis füttern können. Auch diejenigen, die sich nicht qua Rolle mit Marke beschäftigen, müssen ein Verständnis für die Marke haben und für den Wert der Marke und wie sie das zum Ausdruck bringen.

CEO ist oberster Markenrepräsentant

Schwingen: Das wird leicht zu einem zweischneidigen Schwert und schnell sehr hierarchisch. Es stimmt: Der CEO ist der oberste Markenrepräsentant. Aber es darf nicht der Eindruck entstehen, dass Marke nur „dort oben“ gemacht wird. Marke darf sich nicht über andere Bereiche erheben, sondern Marke muss es schaffen, über Querschnittsfunktionen in alle Bereiche zu wirken. Nehmen wir das Beispiel BMW. „Freude am Fahren“ ist ja mehr als nur ein kluger Werbespruch. Dahinter steckt eine Maxime, das Lebenselixier von BMW. Dieses muss sich in der Motorentechnologie oder jetzt, wo es auch um Elektroantriebe geht, im Gesamtkonzept eines Autos widerspiegeln, wenn die Marke den Anspruch weiterhin glaubhaft vertreten will. Der Gedanke hinter dem Slogan ist der rote Faden, der sich von der Produktentwicklung über Vertrieb und Marketing bis zum Aftersales-Bereich durchziehen muss. Und Marke hat dafür zu sorgen, dass alle Bereiche das entsprechend verinnerlichen und umsetzen.

Wir sehen einen Bedarf nach Marken, den Wunsch nach Marken, die Orientierung geben.
Nina Rieke

In Ihrem Buch unterscheiden Sie zwischen Wertegeborenen, Wertereformern und Wertebluffern. In welcher dieser Gruppen sitzt die Mehrheit der Unternehmen in Deutschland?

Rieke: Ohne, dass ich statistische Erhebungen dazu hätte, sage ich aus dem Bauch heraus, dass wir zu vielen Bluffern begegnen. Die setzen vielleicht auf Schlagworte wie Nachhaltigkeit, Vielfalt etc., weil der Markt das verlangt. Aber das ist nur ein Aufkleber. Sie nutzen ein Werte- oder Haltungsthema kommunikativ, hinter der Fassade ist aber nichts. Und wir sehen einen soliden Anteil von Reformern, die es ernst meinen und denen die Werte, die sie propagieren, wirklich wichtig sind. Aber sie sind meist nicht so laut wie viele Bluffer, weil sie noch damit beschäftigt sind, die Werte intern mit Leben zu füllen. Erst die Reform, dann die Kommunikation. Und gerade bei vielen Neugründungen oder auch bei Nischenunternehmen gibt es einige, die wertegeboren sind. Das ist aber häufig noch sehr klein.

Es geht um das klare Commitment zu bestimmten Werten. Um eine Mission.
Nina Rieke

Bei den Wertegeborenen ist der Unternehmenszweck, der notorische Purpose, dann gleichzeitig der Markenkern?

Rieke: Es gibt Unternehmen wie Patagonia, in denen die Gründungsfiguren sehr lange ihre eigene Philosophie zum Tragen bringen und ihre Werte sehr stark nach außen kommunizieren. Ich finde den Begriff Purpose schwierig, weil er immer einen höheren Sinn impliziert und es mindestens um die Rettung der Welt geht. Dabei können schon viel bodenständigere Ziele einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag leisten. Es geht um das klare Commitment zu bestimmten Werten. Um eine Mission.

Ein Modell für die wertebasierte Markenführung.
Ein Modell für die wertebasierte Markenführung.

Schwingen: Wir gehen in unserem Buch zwar explizit auf den Begriff Purpose ein, aber eigentlich umschiffen wir diese Debatte, denn Purpose ist ein Nebelwort. Im Kern geht es um die Frage, wofür sich eine Marke stark machen will.

Marke hat eine Mission

Es geht im Grunde um identitätsbasierte Markenführung. Eine Marke ist dann konsistent, wenn Selbstbild und Fremdbild übereinstimmen. Das Thema ist nicht neu. Warum diskutieren wir es immer noch, und gerade jetzt sehr intensiv?

Rieke: Ich beobachte in den letzten Jahren eine sehr starke Hinwendung zu taktischen Maßnahmen im Marketing. Und viele dieser taktischen Maßnahmen gehen auf Kosten der Marke. Häufig fehlt aus meiner Sicht ein wirklich klares Verständnis, wofür man sich stark machen möchte. Selbst, wenn Unternehmen elaborierte Markenmodelle in der Schublade haben, herrscht nicht selten ein geringes Verständnis dafür, was es im Kern zu stärken gilt. Dabei ist das ganz wesentlich, vor allen Dingen angesichts des massiven Wertewandels, den wir seit einigen Jahren erleben. Menschen erheben immer stärker den Anspruch, dass Marken für bestimmte Werte stehen und auch für sie eintreten. Selbst, wenn die Beschäftigung mit Werten nicht neu ist, so hat die Relevanz von Werten zugenommen. Und das wird auch so bleiben.

Ein Vorwurf, der Marken in der Vergangenheit gemacht wurde, lautet Beliebigkeit. Am Ende des Markenprozesses stehen dann Begriffe wie „Erfolg“, „Leidenschaft“, „Innovation“. Und man weiß nicht, ist das jetzt eine Bank, ein Autohersteller oder ein Tankstellenbetreiber. Im Moment lauten die Begriffe oft „Nachhaltigkeit“ oder „Vielfalt“. Droht das Ganze nicht in eben diese Beliebigkeit zurückzufallen?

Schwingen: Das ist das Credo der erwähnten Wertebluffer – auf trendige Werte aufzuspringen, ohne sie sich zu eigen zu machen. Wir sagen ja nicht, „bedient euch einer Wertematrix, sucht euch drei Begriffe aus und dann highlightet sie im Unternehmen rauf und runter“. Wir betonen – im Gegenteil – dass es so eben nicht funktioniert. Es geht vielmehr darum, einen Werte-Match zu erzielen zwischen den Komponenten Marke, Mensch und Gesellschaft unter Berücksichtigung des Wettbewerbs. Dieser Werte-Match soll dabei helfen, die Kernfrage zu beantworten, wofür eine Marke sich stark machen will. Die Begriffe selbst sind hinführend.

Das ist das Credo der Wertebluffer – auf trendige Werte aufzuspringen, ohne sie sich zu eigen zu machen.
Hans-Christian Schwingen

Rieke: Zunächst ist es ein Spiegel von gesellschaftlichen Werteorientierungen, wenn Unternehmen auf diesen Zug aufspringen und im Moment zum Beispiel Vielfalt oder Toleranz oder Nachhaltigkeit so stark in den Vordergrund stellen. Sie haben verstanden, dass in der Gesellschaft etwas passiert und dass sie sich deutlicher Kritik aussetzen, wenn sie sich damit nicht auseinandersetzen. Aber entscheidend ist die Frage, ob ein Unternehmen sich über Vielfalt beispielsweise tatsächlich unterscheiden kann oder ob das ein Thema ist, das sich schlicht alle Unternehmen auf die Fahne schreiben müssen. Mit Nachhaltigkeit ist es dasselbe. Und wenn alle Unternehmen nachhaltig sind, was ist dann das Besondere, das unser Unternehmen auszeichnet? Und in Kombination mit welchen anderen Werten? Auf diese Antworten kommt es an. Der zweite Punkt ist: Handelt das Unternehmen so, wie es spricht? Erfülle ich den Auftrag, der aus den Werten folgt, und erfülle ich ihn umfassend? Alles andere ist im Zweifelsfall Greenwashing oder Diversity Washing. Hier geht es wieder darum, dass Marke Bestandteil der Unternehmensstrategie sein muss, wenn sie erfolgreich sein soll.

Um es auf den Punkt zu bringen: Wir reden hier von Wahrhaftigkeit. Von Markenintegrität.
Hans-Christian Schwingen

Schwingen: Um es auf den Punkt zu bringen: Wir reden hier von Wahrhaftigkeit. Von Markenintegrität. Und die ist nicht gegeben, wenn sich weltweit agierende Konzerne als Ausweis ihrer „Corporate values“ mit der Regenbogenfahne schmücken, aber in bestimmten Teilen der Welt eben nicht, weil es in den betreffenden Märkten nicht opportun wäre. Das ist Selbstbetrug – eben ein großer Bluff.