Innovation Digitalisierung

Digital Offroad: Ab ins Gelände

Viele Unternehmen folgen in Sachen Digitalisierung der breiten Masse, meinen Ulf Bosch‎, Stefan Hentschel und Steffen Kramer in ihrem neuen Buch „Digital Offroad“. Wir sprachen mit den Autoren über originäre Wege zum Erfolg.

Für die erfolgreiche Transformation muss man aus vorgezeichneten Bahnen ausbrechen.
Für die erfolgreiche Transformation muss man aus vorgezeichneten Bahnen ausbrechen.

"Digital Offroad" nennen Sie die Strategien zur Digitalisierung in Ihrem gleichnamigen Buch. Sie skizzieren dafür in 12 Kapiteln 12 verschiedene Ansätze. Was unterscheidet Ihr Konzept von der schon vorhandenen Ratgeberliteratur zu dem Thema?

Ulf Bosch: Wir haben die Unternehmenswerte fast aller DAX-Unternehmen analysiert und festgestellt, dass diese nahezu identisch waren. Viele Unternehmen sprechen von Respekt, Vertrauen, Integrität, leistungsbezogenen Zielen oder dem Wunsch Innovationen zu entwickeln. Das sind allzu oft Bezeichnungen, die noch keine wirkliche Orientierung bieten. Erfolgreiche digitale Player hingegen haben Unternehmenswerte, die sie von anderen unterscheiden. Sie trauen sich etwas zu und gehen Risiken ein. Ihre Werte sind nicht immer Mainstream-tauglich. Ein bekanntes Unternehmen verpflichtet zum Beispiel alle Mitarbeiter dazu, zu widersprechen, wenn sie es für angemessen halten – egal in welcher Hierarchiestufe sie stehen. Das hebt sich klar von der üblichen Konsenskultur ab, in der jeder, der eine andere Meinung vertritt, als Quertreiber gilt.

Das gesamte C-Level sollte die digitalen Veränderungen treiben.
Steffen Kramer

Stefan Hentschel: Wir haben basierend auf dieser zunehmenden Ähnlichkeit von Unternehmenskulturen die Analogie zu einer Fahrt auf dem Highway hergestellt: Viele Unternehmen fahren auf der Autobahn Stoßstange an Stoßstange, anstatt auf das freie Gelände und in die Natur abzubiegen und sich neu zu erfinden. Das zu versuchen, ist unser Appell mit „Digital Offroad“. Wir legen in dem Buch viele Praxisbeispiele unterhaltsam dar und geben Umsetzungsimpulse für eine authentische und originäre Unternehmenskultur.

"Manager machen Dinge richtig. Leader zeigen, was das Richtige ist." Ulf Bosch

Wie erklären Sie sich die Gleichmacherei in Sachen Unternehmenskultur?

Bosch: Entweder hat man voneinander abgeschrieben oder gesagt: "Wir wollen den Weg des geringsten Widerstandes gehen“. Viele Unternehmen haben Bedenken, dass sie nicht als vertrauenswürdig gelten, wenn sie bestimmte Grundwerte nicht in ihren Kanon aufnehmen.

Steffen Kramer: Die deutsche Wirtschaft basiert sehr stark auf Produktion, Effizienz, Qualität und Termintreue – also die Tugenden, die Deutschland gemeinhin zugesprochen werden. Seit ein paar Jahren sehen wir häufig den Zusatz der Agilität, eines „Out-of-the-Box“-Denkens, das sich Unternehmen gern auf die Fahnen schreiben. Aber wenn man als Organisation schon Jahrzehnte auf dem Buckel hat, ist das nicht so einfach. Unternehmen können ihre Denk- und Handlungsweisen nicht von heute auf morgen verändern.

Hentschel: Viele erfolgreiche Unternehmen, zum Beispiel aus dem Silicon Valley, haben im Gegensatz dazu oft Unternehmer an ihrer Spitze, die eine Idee gegen alle Konventionen verwirklichen wollen. Diese Gründer und Visionäre folgen nicht kurzfristigen Umsatzzielen, sondern langfristigen strategischen Masterplänen. Kurs zu halten, auch bei Widerständen aus dem eigenen Unternehmen oder den Kapitalmärkten, und der feste Glaube an Erfolg sind wichtige Charaktereigenschaften. Diese Wesenszüge machen dann den Unterschied zum Management-Mainstream.

Innovation an der Unternehmensspitze ist ein Muss

Sie sprechen in Ihrem Buch davon, dass diese Unternehmer eine gesunde Paranoia auszeichnet. Was soll an Wahnvorstellungen gut oder gesund sein?

Hentschel: Unternehmen müssen sich immer schneller an die Entwicklungs- und Marktlebenszyklen in ihren Industrien ausrichten. Es hat 38 Jahre gebraucht, bis das Fernsehen 50 Million Zuschauer gefunden hat – bei YouTube und Facebook dagegen gerade einmal drei Jahre und bei WhatsApp ein paar Monate. Und diese Geschwindigkeit nimmt immer weiter zu. Deshalb sollten Firmen darauf vorbereitet sein, dass plötzlich ein Konkurrent am Horizont auftauchen kann, der die Marktbedingungen komplett verändert. Wer ein geradezu paranoides Mindset mitbringt und jederzeit mit allem rechnet, hat eine Art Frühwarnsystem, das sich nicht auf erreichten Erfolgen und business as usual ausruht. Jedes Unternehmen sollte frühzeitig die Anforderungen und Problemlagen analysieren und dann den eigenen Weg finden.

Was kann so ein Frühwarnsystem konkret aussehen?

Hentschel: Es lohnt sich, globale Standbeine zu haben, beispielsweise im Silicon Valley oder auf dem asiatischen Markt. Letzterer explodiert förmlich, jedoch verschließt sich vielen Unternehmen hier in Deutschland dieser gigantische Markt noch kulturell und geographisch. Aber auch digitale Hotspots in Europa spielen eine immer größere Rolle. Dort ist das Maß aller Dinge gerade Israel. Da sehen wir eine sehr ausgeprägte Gründerszene mit rund 6.500 Startups auf 8,5 Millionen Einwohner – das ist europaweit spitze. Deshalb haben die ganz Großen dort auch Forschungsinstitute: Google, Facebook, Microsoft und IBM sind in Tel Aviv vertreten.  

Können Sie Beispiele von Unternehmen nennen, die auf dem Weg erfolgreich auf die Digital Offroad-Strategie abgebogen sind?

Hentschel: Die Entwicklung von FlixBus ist zum Beispiel beeindruckend. Der Markt für Fernbusreisen war bis 2013 unattraktiv, hoch reguliert, mit einer großen Anzahl von Wettbewerbern. FlixBus hat technologiegetrieben mit über 200 Programmierern und Spezialisten für künstliche Intelligenz den Markt neu definiert. Das Unternehmen hat die IT in den Vordergrund gerückt und neue Strecken ausprobiert, die es vorher gar nicht gab. FlixBus hat den Bedarf der Kunden antizipiert und ist so in Europa und Deutschland Marktführer geworden. Jetzt geht das Unternehmen in die USA und legt sich dort mit großen Busanbietern wie Greyhound oder Megabus an. Seit Kurzem bietet FlixBus auch Fernzüge an. Das zeigt, wie erfolgskritisch Technologie sein kann. Ein anderes Beispiel ist Zappos, eines der ersten E-Commerce-Unternehmen, die Schuhe verkauft haben. Auch bei Zappos stand von Beginn an der Kunde im Zentrum des gesamten Handelns. Da muss auch mal der Sachbearbeiter oder jemand aus dem Management im Callcenter sitzen, um zu erfahren, was die Kunden wollen. Wenn die eigene Ware nicht verfügbar oder ausgegangen ist, empfehlen die Zappos-Mitarbeiter auch andere Anbieter. Im Vordergrund stehen die positive Assoziation mit Zappos und die langfristige Kundenbindung.

Innovation Labs: Nah am Unternehmen, aber nicht zu nah

Viele Unternehmen installieren für Entwicklungsexperimente ausgelagerte Innovation Labs. Braucht es derartige Satelliten für mehr Innovationen jenseits des Mainstreams?

Hentschel: Viele traditionelle Großunternehmen stellen fest, dass die Firmenpolitik an ihren traditionellen Standorten Innovation verhindert. Dann ist es durchaus angebracht, Innovationslabs auszulagern. Die Firma Klöckner hat das zum Beispiel sehr erfolgreich gemacht. Der Stahlhändler hat vor gut drei Jahren die Klöckner i in Berlin gegründet, und damit einen Standort, wo alle E-Commerce-Aktivitäten gebündelt werden.

"Oft haben Manager und Führungskräfte Angst loszulassen. das fällt vielen schwer." Steffen Kramer Foto: Enver Hirsch

Kramer: Bei einer solchen Ausgründung sollte die Geschäftsführung frühzeitig dafür Sorge tragen, dass das Lab regelmäßig den Austausch mit der Unternehmenszentrale sucht. Sonst können zwei parallele Kulturen und das sogenannte „Not-invented-here-Syndrom“ entstehen. Dann heißt es etwa, „Das sind die Jungen Wilden, die in Berlin verrückte Ideen für die Zukunft entwickeln“. Um das zu verhindern, kann man zum Beispiel erfahrene Mitarbeiter in die neuen Innovation Labs miteinbeziehen, die dann als Schnittstelle fungieren. Sinnvoll sind auch Rotation-Programme, bei denen Mitarbeiter 3, 6 oder 12 Monate in dem neu geschaffenen Lab arbeiten, und danach wieder an ihren alten Arbeitsplatz zurückkehren. Wenn man es schafft, das Innovation Lab als kreative Spielwiese zu installieren und den Innovationsgeist von dort kontinuierlich auf den Rest der Organisation zu übertragen, dann hat man einen großen Schritt nach vorne geschafft.  

Bosch: Da greift auch der Fluch der Größe. Ich habe erlebt, dass solche Inkubatoren mit bis zu einer überschaubaren Größe von 200 Leuten gut funktionieren können. Entscheidend ist, was dann passiert. Bei einer zu engen Andockung besteht die Gefahr, dass die Inkubatoren von der Hauptorganisation vereinnahmt werden. Erfolgversprechender ist eine Entkopplung oder Anbindung „auf Armeslänge“ mit einer stabilen Nabelschnur zum Rest des Unternehmens.

Was kann man sonst noch von häufigen Fehlern anderer Unternehmen lernen?

Kramer: Viele Unternehmen schieben das Thema Digitalisierung zu lange auf. Wenn dann endlich der Startschuss fällt, wird die Aufgabe der Digitalisierung häufig an eine einzelne Person delegiert, zum Beispiel an den Chief Digital Officer (CDO). Diese Person wird dann zur eierlegenden Wollmilchsau, denn sie zeichnet für sämtliche digitale Themen verantwortlich – von interner IT über Digitalmarketing bis hin zu disruptiven Geschäftsmodellen. Doch auf sich allein gestellt kann ein CDO diese breite Palette an Themen nicht meistern. Trotzdem fühlt sich der Vorstand im Bereich der Digitalisierung sicher, weil er einen Alibi-CDO installiert hat. Ein häufiger Fehler ist auch, dass man in wirtschaftlich erfolgreichen Zeiten das Thema halbherzig angeht. Gerade deutsche Unternehmen befinden sich oft in der Effizienzfalle: Sie sind so stark auf Effizienz getrimmt, dass jede Investition in unsichere Zukunftsmodelle nur als Kostenfaktor gesehen wird.

Hentschel: Technologie wird außerdem sehr stark in Geschäftsbereiche und Units delegiert, wo sich das Thema Digitalisierung verselbständigt. Die Folge sind IT-Flickenteppiche. Systeme werden nicht zentral gesteuert, weil Vorstände gar nicht die nötigen Einblicke in Software und IT haben.

Grundsätzlich ist der Vorstandsvorsitzende oder Geschäftsführer in Personalunion auch CDO, wenn es gut läuft.
Stefan Hentschel

Wer sollte bei der Digital-Offroad-Strategie am Steuer sitzen? 

Hentschel: Grundsätzlich ist der Vorstandsvorsitzende oder Geschäftsführer in Personalunion auch CDO, wenn es gut läuft. Falls er die Digitalkompetenz an einen CDO auslagert, darf dieser kein zahnloser Tiger sein, der weder Budget-Verantwortung noch Personalverantwortung hat. Eine derartige Seelentröster-Funktion kann man sich gleich sparen.

Kramer: Neben dem CEO oder CDO müssen alle Führungskräfte die digitale Agenda vorantreiben. Der CMO kann etwa neue effiziente Möglichkeiten der digitalen Kundenansprache nutzen und neue Absatzmärkte identifizieren. Der CIO sollte durch innovative Industrie 4.0 Lösungen und Machine Learning die Prozesse effizienter gestalten und Kosten sparen. Der CHRO ist für den nötigen Kulturwandel mitverantwortlich. Für den CDO bedeutet das: Im Idealfall kann er sich nach ein paar Jahren zurückziehen, sobald die digitale Agenda in allen Funktionsbereichen des Unternehmens erfolgreich verankert worden ist.

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Welche Art von Führungskräften brauchen Organisationen für die Offroad?

Bosch: Im Deutschen reden wir über die Führungskraft. Im Englischen haben wir eine Unterscheidung zwischen Manager und Leader. Der Manager erledigt Dinge in der richtigen Art und Weise und der Leader zeigt auf, welche Dinge die richtigen sind. Der Leader gibt die Strategie vor und trifft Entscheidungen, die eine Organisation im Digital Offroad von anderen differenziert. Wer keine strategische Vision hat, kann keinen Führungsanspruch wahrnehmen. Wir bewegen uns hin zu einer Meritokratie: Impulsgeber ist der, der die besten Ideen hat, nicht der, der über Statussymbole oder das hierarchische Mandat verfügt.

Impulsgeber ist der, der die besten Ideen hat, nicht der, der über Statussymbole oder das hierarchische Mandat verfügt.
Ulf Bosch

Hentschel: Eine Führungskraft setzt die richtigen Impulse und ist ein Coach: jemand, der Ressourcen zur Verfügung stellt, der moderiert und weniger einer der Befehle gibt. Die Vision muss vom CEO kommen, weil er großen Einfluss auf die Personalplanung, die Budgetplanung und die Daseinsberechtigung des Unternehmens hat. Gleichzeitig haben die Mitarbeiter heute Informationen, die früher nur Führungskräfte hatten. Die Märkte und Unternehmen sind transparenter geworden.

"Das Beispiel FlixBus zeigt, wie erfolgskritisch Technologie sein kann." Stefan Hentschel Foto: Enver Hirsch

Wie kommen denn Führungskräfte Ihrer Ansicht nach mit dieser Veränderung zurecht?

Hentschel: Führungskräfte müssen sich ein Stück neu erfinden, aber wir beobachten, dass sie ihre bisherigen Rollen oft noch nicht weiterentwickelt haben. Das hat dann manchmal fast Comedy-Charakter. Wir haben Meetings erlebt, in denen kontrovers über das Weglassen von Krawatten diskutiert wurde, um damit Uniformität abzustreifen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch positive Beispiele, bei denen führende Mitarbeiter ihre Büros in einen Konferenzraum umgestalten, um mehr Basisnähe zu symbolisieren und zu sagen, „Ich bin einer von euch”.

Kramer: Häufig suchen sich Geschäftsführer ihr Lieblingsthema im Bereich der digitalen Transformation aus und fokussieren sich darauf. Auf sozialen Plattformen aktiv zu sein, ist aber ebenso wenig eine vollständige Digitalstrategie wie eine vollautomatisierte Fabrikstraße. Ein holistisches Bild fehlt oft. Außerdem müssen Manager und Führungspersönlichkeiten loslassen können. Das fällt vielen schwer, sie haben Angst vor Kontrollverlust. Das Gute ist: Mittlerweile haben Unternehmen erkannt, dass sie sich in Sachen Digital Leadership dringend verändern müssen. Sie stellen sich die Frage, welche Strategien und Maßnahmen sie dafür optimalerweise brauchen. Unser Offroad-Konzept kann hier als Kompass für die digitale Reise dienen.

Das Interview führte Stefanie Hornung.

Ulf Bosch ist spezialisiert auf die strategische, organisatorische und kulturelle Transformation von multinationalen Firmen im Kontext der digitalen Ökonomie. Als Prokurist der PricewaterhouseCoopers (PwC) GmbH ist er für den globalen PwC Change Management Ansatz „Return-on-Change“ verantwortlich, der zusammen mit der WHU Business School und der BMW AG entwickelt wurde.

Stefan Hentschel verantwortet als Industry Leader bei Google Germany die strategische Zusammenarbeit mit internationalen Technologie-und Industrieunternehmen. Zuvor war er als Industry Head Finance zuständig für die digitale Weiterentwicklung der deutschen Finanzbranche. Davor war er bei United Internet Media Deutschland, Gruner+Jahr, Axel Springer und im Business Development bei AOL Deutschland tätig.

Steffen Kramer arbeitet bei Google Germany mit deutschen Industriekonzernen an deren digitaler Transformation. Neben den Themen Digital Change und Innovationskultur liegt sein Schwerpunkt auf der Entwicklung von digitalen Marketing- und Vertriebsstrategien. Außerdem arbeitet er mit externen Partnern an kreativen Digitalkonzepten für B2B-Unternehmen.