Business Transformation Agilität

Beweglich in der Krise

Planbarkeit ist eine Illusion in einer Zeit, in der Unsicherheit und Ungewissheit normal sind. Corona zeigt uns, dass Unternehmen und Menschen Resilienz entwickeln müssen, die mehr ist als reiner Überlebenswille.

Wir leben im Zeitalter der Unsicherheit. Daran ändern auch Schutzmasken nichts. Photo by Vera Davidova on Unsplash
Wir leben im Zeitalter der Unsicherheit. Daran ändern auch Schutzmasken nichts. Photo by Vera Davidova on Unsplash

Ist Unsicherheit die neue Normalität?

Ob akut wie SARS-CoV-2 oder schleichend wie die Klimakatastrophe: Was als Ausnahmezustand wahrgenommen wird, kann heute als ständiger Begleiter in unterschiedlichen Gewändern verstanden werden. „Unsicherheit ist die neue Normalität“, erklärte die IWF-Chefin Kristalina Georgiewa dazu kürzlich in einem Interview mit dem deutschen Wochenmagazin Der Spiegel. Sollte sie mit ihrer Einschätzung richtig liegen, müssen wir unsere Perspektive auf Krisen grundsätzlich ändern. In Organisationen sieht man eine Krise als Ausnahmesituation, auf die man mit Ausnahmen reagiert, auch überreagiert und manchmal gar nicht.

Die Arbeitswelt nach Corona
Für die Studie "Wir nach Corona: Szenarien für eine neue Arbeitswelt" hat Haufe Ende April 1621 Menschen aus  Unternehmen in Deutschland, Österreich und der Schweiz online befragt. Die Mehrheit rechnet mit einer Rückkehr zu einer (vielleicht neuen) Normalität bis Ende 2020. Ab Anfang 2021 wollen viele Unternehmen wieder verstärkt investieren. 
Zum Download der Studie

Solange Krisen selten auftreten, kann dieses Verhalten funktionieren. Doch wenn sich kaum noch etwas vollständig überschauen lässt, wenn eine ganze Zeit von Unberechenbarkeit geprägt ist, wird es immer weniger helfen, Krisen als Einzelfälle zu sehen und losgelöst voneinander im immer wieder aufs Neue zu aktivierenden Überlebensmodus bewältigen zu wollen. Vielmehr müssen wir beginnen, Krisen als produktive Kraft zu begreifen, um in und mit ihr gestalten zu können und im besten Fall gestärkt aus ihr hervorzugehen.

Schwarze Schwäne

Vor dem aktuellen Hintergrund ist auch der Verweis auf einen Schwarzen Schwan einmal mehr populär, den der Philosoph und Finanzmathematiker Nassim Nicholas Taleb als Bild für Ereignisse verwendet, die unvorhergesehen und plötzlich eintreten und zugleich äußerst wirkungsvoll sind. Taleb selbst stellte klar, dass SARS-CoV-2 in seinem Verständnis kein Schwarzer Schwan ist. Mit einem Blick auf die Historie, die seit jeher von einer Koexistenz des Menschen und einer Vielzahl tödlicher Viren geprägt ist, und auf eine global vernetzte Welt als Beschleuniger der Superlative, scheint eine weltweite Pandemie bloß eine Frage des Wann zu sein und nicht des Ob. In der Zukunftsforschung spricht man in diesem Zusammenhang auch von Known Unknowns - Dinge, von denen wir wissen, aber ihre Details vor ihrem Auftritt nicht kennen können. Von einem wahrhaftig nicht absehbarem Ereignis, einem Unknown Unknown, können wir bei SARS-CoV-2 nicht sprechen: “The pandemic, in fact, is the whitest of white swans. So it’s arresting that in many ways it’s taken us by surprise. The crisis we inhabit now is many things; but is it in part a failure to think properly about our shared future?”. 

Zwangsläufig stellt sich die Frage, wie wir uns auf vollkommen unvorhersehbare Ereignisse vorbereiten können, wenn uns bereits die Known Unknowns vor beträchtliche Probleme stellen.

Die Frage, die der Zukunftsdenker und Journalist David Mattin aufwirft, wird umso zwingender, wenn wir uns vor Augen führen, was schon bald auf die Menschheit zukommen könnte. Der rasante Klimawandel macht die Natur immer unberechenbarer und auch uns Menschen, die auf sie angewiesen sind. Naturkatastrophen und Kriege könnten die Folge sein, die uns weitaus mehr abverlangen würden als ein paar Tage ohne das vielzitierte Toilettenpapier auszukommen. Und auch diese Szenarien berücksichtigen noch keine kosmischen Katastrophen, wie sie bereits etlichen Arten unseres Planeten ihre Existenz gekostet haben. Zwangsläufig stellt sich die Frage, wie wir uns auf vollkommen unvorhersehbare Ereignisse vorbereiten können, wenn uns bereits die Known Unknowns vor beträchtliche Probleme stellen und unsere Gesellschaften heftig ins Wanken bringen.

Übers Überleben hinaus

Unsere Zerbrechlichkeit wird dadurch kaschiert, dass wir Planbarkeit simulieren, indem wir versuchen, der Problematik mit Fristen (zum Beispiel der Dauer von Ausgangssperren) und Prognosen (wie die Herstellung eines Impfstoffs) zu begegnen. Daran ist per se nichts auszusetzen – gleichzeitig verführen sie bei einer Überbetonung dazu, sich in falsch verstandener Sicherheit zu wiegen (und  schlimmstenfalls kann sie gar als ein beabsichtigter Eingriff in die persönliche Freiheit und Würde interpretiert werden) und dann tendieren wir dazu, zu verharren und abzuwarten, bis die Ausnahmesituation überstanden ist und die Dinge wieder “normal” weiterlaufen können. Eine solche Haltung hindert uns letztlich daran, Krisen als Chance zu begreifen.

Es gilt einer gesunden Zurückhaltung eine mit beweglicher Anpassungsfähigkeit gepaarte Widerstandsfähigkeit an die Seite zu stellen, die die auf sie einwirkenden Kräfte aufnehmen, umwandeln und für sich nutzen kann, um in einem sich beständig verändernden Umfeld bestehen zu können. Dies kann Organisationen gelingen, indem sie in Krisenzeiten ihre Energie auch darauf verwenden, neu formulierte Ergebnisse zu erzielen, Ressourcen zu aktivieren, Verbesserungen zu schaffen und neue und kreative Lösungen zu suchen.

Beweglichkeit ist möglich

Eine solche Form der Beweglichkeit und Widerstandsfähigkeit klingt voraussetzungsvoll. Dabei demonstrieren einige Unternehmen bereits durch Anläufe, dass sie dazu in der Lage sein können: Zahlreiche Bekleidungshersteller, kleine und große, wie Trigema, Eterna, Prada oder H&M, haben gleich zu Beginn der Krise damit begonnen Gesichtsmasken und Schutzanzüge zu produzieren, einige große Automobilhersteller machen es ihnen nach. Jägermeister, Klosterfrau und Pernod Ricard liefern Alkohol für die Produktion von Desinfektionsmitteln aus. Die Bäcker und Metzger von nebenan bieten diverse Hygieneartikel zum Verkauf an. Weiter hinaus wagen sich ein paar kleine Unternehmen, wenn sie Apps entwickeln, die uns daran erinnern, die Hände zu waschen, oder Nutzer über eine App mit ihren lokalen Friseuren verbunden werden, um Anweisungen zu erhalten, wie sie sich Haare und Bart zu Hause (wenigstens halbwegs ansehnlich) schneiden können.

Für zukünftige Krisen wird es entscheidend sein, eine Widerstandsfähigkeit auszubilden, die über den Überlebensimpuls hinausgeht, sodass Organisationen nicht nur reagieren, sondern auch aktiv handeln und gestalten können.

Die Liste ließe sich noch länger fortführen. Denn was wie ein heroischer Akt einiger weniger Unternehmen und Firmen begann, ist nach wenigen Wochen bereits neuer Maßstab. Gleichzeitig werden, wie in jeder Krise, die Rufe nach Bailouts, Abwrackprämien und schweren Hilfspaketen laut, weil sich das zum Teil maßlose Profitstreben von Organisationen durch radikale Verschlankungen und Rekordausschüttungen von Dividenden nicht mit einem nachhaltigem Wirtschaften vereinbaren lässt, das auch in Krisenzeiten durch finanzielle Polster und Weitsicht, eine Robustheit gestatten würde. Dadurch wirken große Organisationen auch während einer vergleichsweise harmloseren Krise zerbrechlich und sind zum Teil tatsächlich existenziell bedroht.

Resilienz entwickeln

Für zukünftige Krisen wird es entscheidend sein, eine Widerstandsfähigkeit auszubilden, die über den Überlebensimpuls hinausgeht, sodass Organisationen nicht nur reagieren, sondern auch aktiv handeln und gestalten können. In Vorbereitung darauf ist ein nachhaltigeres Wirtschaften in allen Belangen unabdinglich. Um auch in der Krise produktiv agieren zu können, werden die Versuche, eine Zukunft vorauszusagen und drohende Verletzbarkeit abzuwenden (was meist mit Hilfe von Regeln, Anweisungen oder Standards versucht wird), wenig nützen. Vielmehr ist es entscheidend, den Mitarbeitern zu ermöglichen, ihre individuelle Widerstandsfähigkeit auszubilden.

Wir müssen Krisen als produktive Kraft begreifen, um in und mit ihr gestalten zu können und im besten Fall gestärkt aus ihr hervorzugehen.

Will eine Organisation beweglich sein, müssen die Menschen sich bewegen dürfen und können. Beides bedarf auch eines gewissen Halts, den gemeinsame Werte geben können. Die aktuelle Krise kann dafür den Nährboden anreichern: Ob es nun die Modedesigner*in ist, die Schutzanzüge und Masken entwirft, oder die Fabrikarbeiter*in, die mit ihr bisher unbekannten Maschinen einen sauberen Produktionsprozess sicherstellen und optimieren muss. Eine vorübergehende Umstellung auf die Produktion von dringend benötigten Waren kann jedoch nur ein Anfang sein und wird spätestens dann fragwürdig, wenn sie zu einem PR-Stunt verkommt.

In allen sozialen Bereichen dürfen und sollten wir uns aktuell die Frage nach gemeinsamen Werten und der Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft frei stellen. Dies beinhaltet neben der anfälligen und umweltschädigenden, weltweit verstreuten Waren- und Nahrungsmittelproduktion, auch Fragen zur virtuellen Arbeit und Zusammenarbeit, oder zur Stellung der lokalen Gemeinschaft und der direkt erlebbaren Umwelt. Die ernsthafte Auseinandersetzung mit diesen Fragen wird uns persönlich und unsere Organisationen beweglicher und widerstandsfähiger machen und uns letztlich dazu befähigen auch in Krisen übers Überleben hinaus zu denken und zu gestalten.

 

Anmerkung: Die hier dargestellten Gedanken werden noch ausführlicher im Buch “Creative Company” von Dirk Dobiey und Thomas Köplin entwickelt und ausgeführt (ab sofort auch auf Englisch verfügbar): Unternehmen müssen heute zahlreiche und oft auch widersprüchliche Anforderungen miteinander vereinbaren, weil ohne deren Beachtung Profitabilität und Langlebigkeit immer schwerer möglich sein werden. Dafür müssen Fähigkeiten ausgebildet werden, die bislang nur eine geringe Rolle spielten. Zu ihnen gehören Wahrnehmungsvermögen, Reflexionsfähigkeit, Gestaltungskompetenz, Umgang mit Unplanbarkeit und Ambiguität – alles Fähigkeiten, die im Künstlerischen zu Hause sind.