Business Transformation New Work

Mit der Konkurrenz die Disruptionswelle reiten

Kunden, Partner und Organisationen jenseits der eigenen Branche – Innovation durch Co-Creation bedarf der Zusammenarbeit verschiedenster Player. Das versuchen Unternehmen im Berliner „Wavespace“. Selbst konkurrierende Firmen experimentieren dort gemeinsam, zum Beispiel im Versicherungslab „Insurhub“.

Der Wavespace in Berlin: Hier suchen unterschiedlichste Unternehmen gemeinsam nach dem nächsten großen Ding. Foto: Wavespace
Der Wavespace in Berlin: Hier suchen unterschiedlichste Unternehmen gemeinsam nach dem nächsten großen Ding. Foto: Wavespace

Versicherungen vor dem großen Umbruch

Die Versicherungsbranche hat ein Problem: Für nachrückende Generationen, die bald den einkommensstärksten Teil der Bevölkerung ausmachen, hat Sicherheit nicht mehr die Priorität wie für ihre Eltern. In Wohlstand aufgewachsen, unabhängig, freiheitsliebend sind jüngere Menschen für Versicherer nur schwer erreichbar. „Niemand möchte eine Versicherung, weil das cool ist, sondern weil sie ein Bedürfnis erfüllt“, erklärt Johannes Frank, Senior Associate bei der EY-Tochter Innovalue, die sich auf Financial Services spezialisiert hat. Jeans und Sneaker gehören wie in der Start-up-Szene üblich für den jungen EY-Berater zur Arbeitsmontur: Seit einigen Monaten ist er Leiter des Insurhub. Er koordiniert ein Team von Vertretern aus Versicherungsunternehmen, die gemeinsam herausfinden möchten, wie die Lebensrealität der Bevölkerung sich verändert und welche neuen Produkte Versicherer dafür anbieten könnten. Die Versicherungsexperten, die an dem jährlich neun Monate laufenden Programm zur Neuerfindung ihrer Branche teilnehmen, lernen Start-up-Methoden kennen, gehen auf die Straße, befragen Kunden, entwickeln Prototypen, verwerfen Ideen und setzen wieder neu an.

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„Zum Teil sind die Leute seit 40 Jahren in der Versicherungsbranche. Wenn diese Menschen Start-up-Methoden kennenlernen, können coole Geschäftsideen entstehen“. Johannes Frank, Insurhub. Foto: Wavespace

Doch warum sollten Firmen dabei mit der Konkurrenz zusammenarbeiten? Und geht das überhaupt? Das Insurhub entstand 2016 auf Initiative von SAP, V.E.R.S. Leipzig, einem Spin-off der Uni Leipzig, sowie EY Innovalue. Die Gründungsmitglieder hatten beobachtet, dass Innovationsprojekte in der Branche schnell verpufften oder einzelne Versicherer nicht die Kapazitäten hatten, um „auf Start-up-Safari“ zu gehen. Warum sich nicht einfach die Entwicklungskosten teilen und so die geballte Kapitalkraft nutzen? Eine gemeinsame Infrastruktur musste her. Das Wavespace ist dafür seit einem Jahr die Spielwiese.

Offene Räume für gemeinsame Ideen

1. Die Location: Ökosystem für Co-Creation

Durch einen Hinterhof in der Ritterstraße in Kreuzberg gelangt man über einen kleinen, schmalen Aufzug in den fünften Stock, wo sich eine andere Welt auftut. Große, offene Räume wechseln sich mit geschlossenen Arbeitsbereichen ab. Bis zu 70 Menschen werkeln auf 1.500 Quadratmetern an Innovationen. Sie kommen aus fünf bis sechs Start-ups, aus etablierten Unternehmen wie BASF oder Continental, von Mittelständlern wie Heinrich Schmid sowie aus der Versicherungsbranche.

Der „Head of Wavespace“ Oliver Bey führt persönlich durch die Räumlichkeiten. 2017 hat er bei der Digitalberatung etventure angeheuert, die als Tochterunternehmen von EY operiert und gemeinsam mit der Prüfungs- und Beratungsgesellschaft den „Co-Creation Space“ betreibt. Der schlanke und hochgewachsene Start-up-Experte trägt einen Hipster-Bart, der nicht zu akkurat wirkt. „Wir sind hier nie fertig“, sagt er. Ständig entwickle sich der Raum mit den Bedürfnissen der dort agierenden Unternehmen und Start-ups. Vieles was Oliver Bey am Reißbrett mit dem Architekten entwarf, hat sich anders entwickelt. Zum Beispiel verfügen alle Meeting-Räume über schöne Außenterrassen, die Beschäftigen tummeln sich aber lieber in der zentralen Innenterrasse, ein geschützter Raum im Freien. „Das ist wie auf WG-Partys, da quetschen sich auch alle in den kleinsten Raum. Wir mussten umdisponieren und an der Stelle genügend Sitzgelegenheiten besorgen“, berichtet Oliver.

Wir sind hier nie fertig.
Oliver Bey, Wavespace

Auch der größte Raum im Wavespace, der „Galaxy“, in dem bei Events bis zu 100 Personen Platz finden, hält selbst für den Macher des Co-Creation Space immer wieder Überraschungen bereit. Ein roter Teppich, der verschiedene Stationen von einer Lunchtafel über exotische Bambus-Welten bis hin zur Gallery-Walk-Abschlusspräsentation verbindet, oder ein Boxring, um sich zu Innovationsthemen zu batteln – die Räume im Wavespace sind wandelbar. Der Rundgang führt durch die Arbeitsbereiche, wo klassischerweise mehrere Schreibtische beieinanderstehen. Wer ungestört telefonieren muss, kann sich in eine der schalldichten Kabinen zurückziehen, die an die gute alte Telefonzelle erinnern. Am anderen Ende lädt wiederum eine Art Wohnzimmer zum Verweilen ein. „Das ist mein Lieblingsraum“, schwärmt Oliver Bey. Hier gibt es eine kleine Bühne mit Treppenabsätzen als Sitzgelegenheit, Besprechungsnischen mit digitalen Whiteboards sowie Blick über die Dächer Berlins – optimal für Workshops und parallele Break-out-Sessions.

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Schick und cool soll es sein, doch am Ende geht es um knallharte Geschäftsinteressen, sagt Oliver Bey von Wavespace. Foto: Wavespace 

„Die schöne Arbeitsumgebung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es hier um eine knallharte unternehmerische Notwendigkeit geht“, betont Oliver Bey. Unternehmen müssten sich trauen, das eigene Geschäftsmodell anzugreifen, bevor es Start-ups oder die Konkurrenz tue. Das gehe am besten fernab vom Unternehmen – je weiter weg, desto höher das Freiheits- und Kreativitätspotential. Wer hierher kommt, soll für drei bis sechs Monate in einem geschützten Arbeitsumfeld die üblichen Strukturen, Unternehmenshindernisse und festgefahrene Denkmuster hinter sich lassen können. „Der Wavespace ist ein Ökosystem. Wir geben dieser Community unsere Digital- und Branchenexpertise, State-of-the-art-Technologien und New-Work-Methoden an die Hand. Das ist genau das Umfeld, in dem der kreative Funke wirklich überspringen kann.“

Anders als in einem klassischen Co-Working-Spaces wolle man nicht einfach die Sitzplätze besetzen. „Wir bieten Co-Creation, weil wir an die Kraft der Zusammenarbeit glauben. Da sollen möglichst viele Leute mit anderen ins Gespräch kommen, die 100 Prozent auf ihr Thema einzahlen.“ Vor allem Start-ups seien sehr fokussiert und möchten keine Zeit verlieren. Laufend muss der Wavespace-Macher deshalb die Passung der Mieter kuratieren, Projektlaufzeiten der einzelnen Player abgleichen und schnell auf Veränderungen reagieren – nicht nur aus Kapazitätsgründen, sondern vor allem inhaltlich. Eine Person im Team beschäftigt sich allein damit, die richtigen Player ins Haus zu holen und sie zu vernetzen. Geht es mit einem Projekt oder dem Investment dafür nicht weiter, gilt es wieder neu zu planen.

Wir bieten Co-Creation, weil wir an die Kraft der Zusammenarbeit glauben. Da sollen möglichst viele Leute mit anderen ins Gespräch kommen, die 100 Prozent auf ihr Thema einzahlen.
Oliver Bey, Wavespace

2. Insurhub: Versicherungen sind Alltagsschmerzen auf der Spur

Einfach anfangen, Entwicklungen überwachen und dann schnell nachjustieren – das ist auch die Vorgehensweise im Insurhub. 2019, im dritten Jahr, hat sich das Innovationslabor die Themen Wohnen, Gesundheit und Mobilität vorgenommen. „Aktuell entstehen viele neue Lebens- und Wohnkonzepte wie etwa Living as a service. Dafür gibt es noch keine passenden Versicherungsprodukte“, weiß Johannes Frank. Er kann sich nicht vorstellen, dass man die Versicherung dafür künftig noch beim Bankberater kauft – digitale Lösungen und ganz andere Angebote sind gefragt. „Wir müssen aus Kundensicht denken, nicht in Versicherungsprodukten.“

Wenn 40 Jahre Berufserfahrung Design Thinking entdecken

Im Insurhub 3.0 teilten sich fünf Versicherungsunternehmen eine Innovationspipeline und die Kosten dafür: HDI, Ecclesia Gruppe, Provinzial NordWest, Die Stuttgarter und Barmenia. Das zusammengewürfelte Team arbeitet interdisziplinär, funktions- und hierarchieübergreifend – mit Vertrieblern, ITlern, Sachbearbeitern oder Risikoprüfern. „Da kommen ganz unterschiedliche Sichtweisen zusammen. Zum Teil sind die Leute seit 40 Jahren in der Versicherungsbranche und kennen sich fachlich bestens aus. Wenn diese Menschen Start-up-Methoden kennenlernen, können coole Geschäftsideen entstehen“, so der Leiter des Insurhub.

Wir müssen aus Kundensicht denken, nicht in Versicherungsprodukten.
Johannes Frank, Insurhub

Zuletzt beschäftigten sich die Teammitglieder mit einer Versicherungslösung für das Handwerk, die das Risiko von Zahlungsausfall adressiert. Denn wenn ein Kunde Rechnungen nicht rechtzeitig begleicht, kann das für mittelständische Betriebe der Branche existenzbedrohend sein. Eine weitere Projektidee nimmt inzwischen gemeinsam mit den Johannitern, Viessmann, einem Anbieter von Heiz- und Kühllösungen, sowie einem Start-up für Smart-Home-Devices Gestalt an: Ältere Menschen möchten solange wie möglich in den eigenen vier Wänden wohnen. Deshalb denken die Versicherungsanbieter über eine neuartige Notfallhilfe nach. „Viele digitale Lösungen wie Lieferservices und Mobilitätsdienstleister sind nicht für ältere Menschen konzipiert – das möchten wir ändern. Unsere Idee zeigt: Die Versicherung der Zukunft kann über monetäre Risikoabsicherung hinaus bis hin zu Sach- und Dienstleistungen reichen“, unterstreicht Johannes Frank, der allerdings keine Details verraten möchte.

Customer Centricity in echt: Produktentwickler als Marktforscher

Um wirkliche Problemstellungen zu identifizieren, knöpfen sich die Innovationswilligen die „Alltagsschmerzen“ von verschiedenen Bevölkerungsgruppen vor. Die Projektteilnehmer gehen in Berlin auf die Straße und fühlen Passanten bezüglich ihrer täglichen Sorgen auf den Zahn. „Viele Menschen haben ein neues Mobilitätsbedürfnis, brauchen vielleicht kein eigenes Auto, machen aber mit der Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel schlechte Erfahrungen“, nennt Johannes Frank ein Beispiel. Um derartige Schmerzpunkte anzugehen, befragten die Teilnehmer verschiedene potentielle Kunden, teils auch großflächig – wie etwa kürzlich in einer Umfrage unter knapp 500 Handwerksbetrieben. Manchmal kommt dabei auch der Zufall zu Hilfe: Mit Floorwell, einem Start-up, das den Bodenbelagmarkt neu aufrollen möchte, sitzt ein Handwerksbetrieb direkt im Wavespace. Das Insurhub-Team konnte bei Bedarf jederzeit die Experten vor Ort nach den Problemen im Alltag fragen – etwa, wie sie ihr Büro organisieren, mit ERP-Buchhaltungssystemen oder dem Heft unter dem Arm. Auf ähnliche Weise sind laut Johannes Frank schon Ideen für eine private Obdachlosen-Krankenversicherung oder eine Lösung für Cyber-Mobbing entstanden.

3. Hierarchiefrei arbeiten: Auf Augenhöhe mit Wettbewerbern

Das Kernteam des Insurhub besteht aus 15 bis 20 Personen. Manchmal kommen zu den festen Teammitgliedern, die drei Monate bleiben, auch noch Gast-Sprinter dazu, die nur drei Wochen in das Innovationslabor hineinschnuppern. Für manche Aufgaben oder Produktideen teilen sich die Mitarbeiter in Unterteams auf, immer so, dass ein Vertreter aus jeder teilnehmenden Versicherung vertreten ist. Thomas Köppen ist für HDI im Insurhub. „Mein tägliches Brot ist es, unser Vertriebsportal für die Vermittler draußen im Feld bereitzuhalten, damit sie jederzeit Auskünfte über bestehende Versicherungen geben und neuste Antragsprozesse nutzen können“, erklärt der IT-Koordinator, der bisher nur wenig direkte Berührungspunkte mit der Innovationsabteilung hatte. Er meldete sich einfach aus Neugierde, als sein direkter Chef nachfragte, wer im Insurhub dabei sein möchte.

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Design Thinking und Post-its für neue Ideen. Foto: Wavespace

Am Anfang der drei Monate, die der 55-jährige HDI-Mitarbeiter hier verbringen sollte, wurde er gleich in den laufenden Prozess „hineingeschubst“. Die anderen Teilnehmer waren schon einen Tag hier, hatten sich bereits mit dem täglichen Prozedere, der kodierten Sprache mit ihren vielen Abkürzungen vertraut gemacht – VC für Venture Capital, MVP für Minimum Viable Product oder Business Angel als Bezeichnung für einen Start-up-Investor. Beim Check-in am Morgen klopfen die Teamkollegen ab, wie es den anderen geht, ob jemand nicht gut drauf ist und legen entsprechend das Tagespensum fest. Zum Ritual gehören auch kleine Warm-up-Übungen. Abends beschließt ein Check-out mit Feedbackrunde den Tag.

Design Thinking, Iterationen, Sprints und mehr

Neben Markt-, Trend- und Szenarioanalysen kommen im Insurhub zunächst Innovationsmethoden wie Design Thinking zum Einsatz. Ist das erste Feedback auf Produktideen positiv, geht es weiter mit der Validierungsphase, gemäß der Lean-Start-up-Methode nach Eric Ries, wobei man Innovationen in kurzen Iterationsschleifen dahingehend testet, ob sie markttauglich sein könnten. Anhand von Prototypen versuchen die Teammitglieder mit Experimenten herauszufinden, wie die Kunden darauf reagieren – etwa mithilfe von Fake-Door-Tests, bei denen man so tut, als gäbe es ein Produkt schon.

Das Wavespace unterhält für die Validierungsphase zudem zwei spezifische „Labs“: Das Prototyping Lab ist eine kleine Werkstatt. 3D-Drucker, Lasercutter und weitere Werkzeuge sind dazu da, physische Produkte zu bauen, beispielsweise mithilfe eines IoT-Hardware-Experten. Im Data Lab sitzt ein Data Scientist, der sensible Echt-Daten durchrechnen oder einen Algorithmus programmieren kann. „Wenn man ein Problem hat, schaut man, ob Daten dabei helfen können – niemals sollte der Weg umgekehrt laufen“, betont Oliver Bey. Datenmaterial allein bringe wenig, ohne einen lösungsorientierten Innovationsansatz.

Johannes Frank hat festgestellt, dass die Teammitglieder trotz unterschiedlichem Vorwissen sehr schnell die nötigen Methoden übernehmen. Der Projektleiter ist festes Teammitglied und kann so bei Bedarf jederzeit mit Erfahrungswissen weiterhelfen. Außerdem kommen Coaches vorbei und die Projektgruppe besucht Meet-ups, Pitches oder Fuckup-Nights in der Berliner Nachbarschaft. Das Meiste ist Learning by Doing. „Die Lernprozesse sind autodidaktisch. Wir kriegen anfangs Löcher in den Bauch gefragt, weil die Leute intrinsisch motiviert sind, ein einheitliches Verständnis im Team zu entwickeln“, meint der Projektleiter. Auch die Zusammenarbeit mit Wettbewerbern sei für die meisten kein Thema, schließlich seien sie auf Wunsch ihrer Unternehmen hier. „Wir haben noch nie zu einem Teilnehmer sagen müssen: ‚Jetzt öffne Dich mal!‘. Das ist ein natürlicher Prozess, da wir hierarchiefrei zusammenarbeiten.“

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Wer will, kann seinen Prototypen in 3D ausdrucken. Foto: Wavespace

Für Co-Creation muss man keine Interna verraten

Das kann auch Thomas Köppen aus Teilnehmersicht bestätigen. „Klar, kommt jeder mit seinem Paket und seinen Erfahrungen. Aber wir nehmen ganz selbstverständlich die Ideen der anderen auf und bearbeiten sie weiter. Dafür müssen wir nicht die Arbeit der Projektkollegen in ihren Unternehmen verstehen oder uns über Interna austauschen“, sagt der IT-Koordinator von HDI. Schwieriger sei für ihn anfangs die Selbstorganisation gewesen – aus seinem Unternehmensumfeld kannte er dies vorher nicht in dem Maße. „Im Unternehmen bekommt man seine Aufträge und kennt seine Pappenheimer. Hier muss man sich selbst Aufgaben suchen, wenn man vorher fertig ist, und schauen, wie man die Kollegen unterstützen kann.“ Dabei helfe die sanfte Einflussnahme der Coaches: Sie nutzen das sogenannte „Timeboxing“, klare Zeitslots für bestimmte Aufgaben. Außerdem müssen die Insurhub-Teilnehmer ständig ihre Ergebnisse präsentieren. „Da entwickelt sich eine Teamdynamik, in der jeder die tollste Lösung entwickeln möchte.“

Die Selbstorganisation war für Thomas Köppen von HDI anfangs eine Herausforderung.
Die Selbstorganisation war für Thomas Köppen von HDI anfangs eine Herausforderung. Foto: Wavespace

4. Weiterbildung im Innovationshub: Vom Nebenprodukt zur Hauptsache

Zu konkreten Innovationsideen soll jeder gleichermaßen die Meinung äußern können – auch oder gerade, wenn sie kritisch ausfällt. Das gehört zur Tauglichkeitsprüfung. „Gefragt sind nicht nur die, die lautstark für ihre Positionen einstehen“, findet Johannes. Als Moderator hat er ein Auge darauf, dass auch die etwas stilleren Teammitglieder zu Wort kommen. Wenn Entscheidungen anstehen, bringt jeder seine Argumente vor, dann wird demokratisch abgestimmt. Überzeugt die Idee nicht, könne das schmerzhaft sein. Denn dann heißt es: „Kill your Darling!“ – besser früher als später, bevor man viel Zeit und Geld investiere. Thomas hat diesen Leidensweg schon selbst erlebt. Mit einem Kollegen entwickelte er etwa ein Angebot für Angehörige von Pflegebedürftigen. „In meinem Kopf hatte ich eine vollautomatische Plattform gebaut und alle Leistungsträger und Leistungsempfänger angestöpselt. Dank des Feedbacks der Teamkollegen ist dann aber klar geworden, dass das nicht das eigentliche Problem der Angehörigen löst“, so der IT-Koordinator von HDI.

Jeder kommt mit seinem Paket und seinen Erfahrungen. Aber wir nehmen ganz selbstverständlich die Ideen der anderen auf und bearbeiten sie weiter.
Thomas Köppen, HDI

Sobald das Team eine Idee fallen lassen muss, geht es wieder raus aufs Feld, nochmal von vorne anfangen. „Es war eine Challenge, wirklich zuzuhören und durch mehrmaliges Nachhaken des Pudels Kern herauszuarbeiten. Oft versteht man erst nach dem dritten oder vierten Warum, wo den Leuten der Schuh drückt.“ Sobald die Problemstellung wirklich klar ist, geht es weiter. Dabei führen laut Thomas Köppen viele Wege nach Rom. Er erinnert sich an einen Workshop, in dem zwei Teams dieselbe Aufgabe bekamen, jedoch ganz unterschiedliche Lösungen erarbeiteten. „Es gibt nicht nur eine Wahrheit – die Kunst besteht darin, die beste für den jeweiligen Kontext zu finden.“

Das Insurhub ist eine Ausbildungsstätte.
Johannes Frank, Insurhub

Derartige Erkenntnisse paukt hier niemand theoretisch, sondern anhand echter Fragestellungen. Was ursprünglich als Nebenprodukt gedacht war, wird immer mehr zur Hauptsache: „Das Insurhub ist eine Ausbildungsstätte“, konstatiert Johannes Frank. Das Gelernte fließt auch ins Unternehmen zurück – dank der 60-40-Regel: Drei Tage in der Woche verbringen die Teilnehmer im Insurhub, zwei Tage gehen sie zurück in ihr Unternehmen. Die Idee dahinter: In ihrer Organisation werden sie zu Multiplikatoren für neue Zusammenarbeit und Innovationsdenken, indem sie die gelernten Methoden direkt anwenden. Laut dem Insurhub-Leiter ist die Neugierde der Kollegen in den Unternehmen groß. Einfache Übungen wie den täglichen Check-in und Check-out hätten schon viele Teilnehmer in ihren Alltag übertragen. Einer der ersten Teilnehmer im Insurhub habe sogar einen eigenen Innovationsbereich in seinem Unternehmen aufgebaut.

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Ziel ist es, die neuen (Zusammen)Arbeitsweisen mit in die Unternehmen zu nehmen und dort wirksam werden zu lassen. Foto: Wavespace

Der Projektleiter räumt aber ein, dass es nicht immer so einfach ist: „Wir versuchen Anwendungsszenarien von Start-up-Methoden für verschiedene Bereiche wie etwa HR und Controlling aufzuzeigen.“ Der Transfer falle vielen Unternehmen dennoch nicht leicht. „Die Challenges im Insurhub haben mit meinem Tagesgeschäft nichts zu tun“, bedauert Versicherungsexperte Thomas Köppen. Manchmal habe er sich einen direkteren Praxisbezug gewünscht, damit er in seinem Job direkt da weiterzumachen kann, wo er im Insurhub aufhört. Aber die erworbene Methodenkompetenz könne ihm niemand mehr nehmen. Insbesondere die abschließende Präsentation vor dem Lenkungsausschuss nach der dreimonatigen Projektphase verschafft den Teilnehmern eine hohe Sichtbarkeit – und eine gute Ausgangsposition für die weitere Entwicklung in ihrem Job. Bei HDI in Hannover tauschen sich die Ex-Insurhubler mit dem Innovationsmanagement aus, bilden Arbeitskreise, um den Methodenbaukasten auch für andere Kollegen zugänglich zu machen. Denn in Zukunft müssen sich alle Beschäftigten gewaltig verändern, meint Thomas. „Das Insurhub ist dafür eine Initialzündung – für unsere Unternehmenskultur, aber auch für mich persönlich. Mit dem Gelernten habe ich bessere Karten im anstehenden Veränderungsprozess.“

5. Mindset für Co-Creation: Es gibt noch Luft nach oben

Letztlich sollen im Insurhub konkrete Innovationskonzepte samt Markteinschätzung entstehen: 35 neue Geschäftsmodelle und Produktkonzepte schlagen schon zu Buche, wovon es ein Drittel in die Validierungsphase schaffte. Beim Abschluss des Insurhub 3.0 hat das Team nach erfolgreicher Validierung für zwei konkrete Geschäftsideen einen Prototyp in der Beta-Phase umgesetzt und die Empfehlung ausgesprochen, weiterzumachen. Künftig soll zudem ein Alumni-Netzwerk entstehen, in dem die Ex-Insurhub-Teilnehmer Kontakt halten und Ideen und Methoden weitertreiben. Alle beteiligten Versicherer können jederzeit Prototpyen aus dem Innovationslabor herausziehen und weiterentwickeln – die Anteile an dem hier erarbeiteten geistigen Eigentum gehören ihnen zu gleichen Teilen. Projektleiter Johannes hat schon erlebt, dass manche Ansätze in der Versenkung versinken, dann aber nach einem Jahr doch zur Umsetzung kommen, als eigene App beispielsweise. Theoretisch könnten aus den neuartigen Assekuranz-Konzepten auch eigene Start-ups hervorgehen.

Start-ups und Gründungen

Gründungsgeschichten gibt es im Wavespace schon einige, wie etwa die vom Start-up Repairfix, das eine digitale Plattform für schnelle Werkstattvermittlung in der Nähe aufbaut. Die Vision: Als AI-unterstützten Plattform möchte das Start-up eine zentrale Anlaufstelle für alle Services sein, die Future-Mobility-Anbieter benötigen – etwa digitale Abwicklung, aber auch Reparatur von Karosserie- und Glasschäden, Reifendienst oder Autoreinigung. Die Idee ist aus einem Beratungsprojekt mit der BASF, verschiedenen Ersatzteilherstellern und Werkstätten entstanden. Einige Monate hat der frühere etventure-Projektmanager und Repairfix-Gründer Dr. Moritz Weltgen gemeinsam mit seinen drei Mitgründern noch die Infrastruktur im Wavespace genutzt, um dann nach München umzuziehen und sich dort mit den ersten Mitarbeitern auf eigene Beine zu stellen.

Entlang der eigenen Wertschöpfungskette mit Start-ups zu arbeiten, das sei aber schwieriger als viele etablierte Unternehmen glaubten. Oliver Bey gibt ein Beispiel: Erst kürzlich inkubierte der Automobilzulieferer Continental im Wavespace ein Projekt mit seinem Start-up. „Für die war selbstverständlich, dass das Start-up die Fortschritte allen Beteiligten präsentiert. Wir mussten dem Kunden erst den Denkanstoß geben, dass Co-Creation keine Einbahnstraße ist und sie selbst auch mit ihren Erkenntnissen auf die Bühne gehen.“

Wenn nur die oberste Führungsetage davon überzeugt ist, versandet die Innovationsdenke weiter unten.
Oliver Bey, Wavespace

Wettbewerber sprechen dem Wavespace-Macher zufolge hingegen oft eine gemeinsame Sprache und folgen einer ähnlichen Logik. Dennoch sind nicht alle Unternehmen für Co-Creation mit Wettbewerbern so zugänglich wie die Versicherer im Wavespace – und selbst hier gelte es immer wieder neu zu überzeugen. In vielen Branchen wie etwa dem produzierenden Gewerbe oder der Stahlindustrie seien Betriebsgeheimnisse rund um technische Errungenschaften absolut heilig – noch. Könnte Open-Source-Denken auch dort Einzug halten, wenn das Wettrennen um neue Technologien anders nicht zu gewinnen ist? Das Insurhub wird allerdings bis auf weiteres eine Ausnahme bleiben, wenn es im März 2020 in die nächste Runde geht.

Es muss nicht jeden Tag ein neues Amazon entstehen, aber in neuen digitalen Ökosystemen kann jederzeit ein neuer Konkurrent um die Ecke kommen.
Oliver Bey, Wavespace

Zum Schluss führt der Rundgang durch den Wavespace über die Innenterrasse ins Freie. Um an den Ausgangspunkt ins Gebäude zurückzukehren, zückt Oliver Bey einen Schlüsselbund und merkt an, diesbezüglich sei man noch ein bisschen oldschool unterwegs. Auch in Sachen Co-Creation gibt es Optimierungspotential, findet er. Für die Entsendung von Beschäftigten in Innovationshubs bräuchten die Beschäftigten das Commitment des Top-Managements. Doch damit nicht genug. „Wenn nur die oberste Führungsetage davon überzeugt ist, versandet die Innovationsdenke weiter unten.“ Führungskräfte aus dem mittleren Management sträubten sich dann, ihre besten Leute für drei Monate vom Bestandsgeschäfts abziehen, nur damit sie mal ein paar Monate „im coolen Berlin abhängen“. Ein Mindset für Co-Creation hat hingegen laut Oliver Bey das große Ganze im Blick: „Es muss nicht jeden Tag ein neues Amazon entstehen, aber in neuen digitalen Ökosystemen kann jederzeit ein neuer Konkurrent um die Ecke kommen. Deshalb sind die Mitbewerber von heute vielleicht die Partner von morgen.“