Agilität Thought Leaders

Wie versteht John Kotter Agilität?

Wie können Unternehmen Agilität schaffen? Change-Guru John Kotter will dazu über die klassische Organisation ein „zweites Betriebssystem“ legen. So sollen Synergien entstehen, die die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens fördern.

Dr. John Kotter ist Professor an der Harvard Business School und gilt als Vordenker im Change-Management
Dr. John Kotter ist Professor an der Harvard Business School und gilt als Vordenker im Change-Management

Dr. Kotter, weltweit betreiben wir Change Management nach den Regeln, die Sie in „Leading Change“ definiert haben. Jetzt haben Sie in Ihrem Buch „Accelerate“ diesen Ansatz weiterentwickelt. Warum?

John Kotter: In „Leading Change“ ging es um groß angelegte Change-Projekte. Die wurden damals schlecht gemanagt – und ich hoffe, dass auch heute noch meine Ideen helfen, solche Mammutprojekte erfolgreicher zu gestalten. In den letzten Jahren hat die Zahl strategischer Projekte allerdings drastisch zugenommen. Change ist ein Dauerzustand. Da trägt der Ansatz nicht mehr. Zum einen genügt es nicht, die einschlägigen Instrumente alle zwei Jahre aus dem Werkzeugkasten zu holen und nach Abschluss des Projekts wieder zurückzulegen. Zum anderen stehen unsere Organisationsstrukturen dem Wandel entgegen. Die sind nicht dafür gemacht, schnelles und agiles Handeln zu ermöglichen. Change ist wirklich ein völlig neues Spiel geworden.

Was ist falsch an unseren Unternehmensstrukturen?

Herkömmliche Unternehmen setzen auf Hierarchien, operieren in Silos, arbeiten mit Leitlinien, definierten Rollen und Prozessen sowie ausgefeilten Planungssystemen. Sie gewährleisten, was etablierte Unternehmen sicherstellen müssen: effizient und stabil ein Standardgeschäft durchzusteuern. Das ist eine große Herausforderung, die gar nicht hoch genug zu bewerten ist. Aber solche Organisationen tun sich schwer damit, strategische Chancen und Risiken schnell zu erkennen und darauf zu reagieren. Wenn Sie wissen wollen, wie man intelligente, innovative Entscheidungen unbürokratisch trifft und schnell umsetzt, müssen Sie sich erfolgreiche Start-ups anschauen. Die haben nichts außer ihrer Agilität. Und die verdanken sie ihren Netzwerkstrukturen.

Das heißt, aus etablierten Unternehmen sollen Start-ups werden?

Nicht ganz. Wir brauchen beides in Organisationen: Stabilität und Agilität, Hierarchien und Netzwerke. Wir brauchen das, was ich ein „duales Betriebssystem“ für Unternehmen nenne. In „Accelerate“ erkläre ich, wie man ein solches duales Betriebssystem in Organisationen implementiert. In Europa neigen wir dazu, beide Welten strikt voneinander zu trennen. Wir gründen Inkubatoren oder Spezialeinheiten, die weit weg vom Standardgeschäft operieren und sich mit Innovation oder strategischem Wandel beschäftigen. So wurden Generationen von Managern eben instruiert. Nicht nur in Europa, das gilt weltweit. Aber das wird sich ändern. Denn hier entscheidet sich, wer die Herausforderungen meistern wird und wer nicht.

Wir brauchen beides in Unternehmen: Stabilität und Agilität. Hierarchien und Netzwerke. Wir brauchen das, was ich ein ‚duales Betriebssystem‘ nenne.
John Kotter

Zwei Betriebssysteme für den Erfolg

Sind Sie sicher, dass Ihr „duales Betriebssystem“ hält, was es verspricht?

Wir haben meine Überlegungen in unserer Beratungsgesellschaft Kotter International in mehreren Projekten getestet. Außerdem stütze ich mich auf jede Menge Forschung. Die Bilanz der getrennten Welten ist ernüchternd. Es mag ein paar wenige geben, die damit gut fahren. Die Mehrheit tut es nicht. Mit ist das vor 30 Jahren bei Xerox aufgefallen, wenngleich ich damals die ganze Tragweite noch nicht erfasst habe.

Xerox galt als eines der innovativsten Unternehmen seiner Zeit!

Zu Recht! Die hatten eine neue Generation von Kopiergeräten erfunden und wuchsen damit stark. Wann immer sie aber versuchten, dem weitere Innovationen folgen zu lassen, sind sie gescheitert. Die Manager folgerten daraus, es fehlten eben ausreichend innovative und kreative Kapazitäten im Unternehmen. Deshalb haben sie eine eigene neue Einheit in der Nähe von Stanford an der Westküste aufgemacht, während sie ihr Standardgeschäft weiter von Rochester an der Ostküste aus betrieben. Sie nannten die neue Einheit Palo Alto Research Center, haben dort neue Leute eingestellt und ihnen eigene Budgets vermacht. Das hat funktioniert, denn aus Palo Alto kamen tatsächlich tolle Ideen. Allein, keine davon wurde ein Erfolg.

Warum?

Die Leute in Palo Alto hatten wirklich großartige Ideen, aber es gab keinen, der sie weitergetragen und umgesetzt hätte. Das hätte in Rochester passieren müssen. Doch dort stellte man sich eher quer, weil das jeweils neue Prozesse und Strukturen erfordert hätte.

Das übliche Verhalten zwischen Silos.

Mehr als das. Rochester blockierte nicht nur, sondern wurde argwöhnisch. Verbrannten die in Palo Alto nicht unnütz Budget, dachten die überhaupt praxisorientiert? Aber auch in Palo Alto wuchsen die Vorbehalte. Waren die in Rochester nicht völlig verblendet, was Zukunftschancen anging? Sie ahnen, wie das endet. Die Klügsten aus Palo Alto gründeten rund um ihre Ideen eigene Firmen – von denen aber einige nicht überlebten, weil ihnen die Finanzmittel fehlten, die ihnen Rochester locker hätte geben können. Und genau solche Probleme haben zahlreiche Firmen, die auf Trennung der Welten setzen, heute immer noch.

Innovationen durch Agilität fördern

Dann sorgt das zweite Betriebssystem für bessere Akzeptanz von Change-Maßnahmen und Innovationen?

Ja, und es hilft, diese schneller umzusetzen. Es gibt zu viele Leute, die nicht mitziehen, weil sie nicht einbezogen waren oder sich mit Dingen beschäftigen wollen, für die sie eigentlich verantwortlich sind. Auch wenn es mancherorts gelingen mag, im Großen und Ganzen ist die Bilanz der getrennten Einheiten ein Desaster. Das gilt auch für Akquisitionen. Viele Firmen kaufen Start-ups zu horrenden Preisen, die sie dann wegen Erfolglosigkeit wieder schließen. Hierfür gibt es viele Belege.

Welche Initiativen können denn sinnvollerweise aus dem zweiten Betriebssystem heraus getrieben werden?

Alles Mögliche. Sie können hier eine weltweite Lieferkette konzipieren und ausrollen, sie können Marktstrategien oder Geschäftsmodelle überarbeiten und umsetzen, sie können Zukäufe in solchen Strukturen integrieren oder eine neue Kultur etablieren. Alles ist geeignet, was eine nennenswerte Zahl von Menschen benötigt, um etwas neu zu denken und am Ende auch anders als gewohnt zu machen.

Findet man denn im „ersten Betriebssystem“ überhaupt die richtigen Leute dafür?

In der Regel benötigen Sie nicht mehr als zehn Prozent ihrer Kernbelegschaft, um solche Projekte erfolgreich voranzutreiben. Und die finden Sie immer – in der nötigen Quantität wie Qualität. Das gelang uns selbst in Firmen, wo das Management unseren Empfehlungen gegenüber skeptisch war.

Kein Wunder, dass Manager Vorbehalte haben. Wo sollen denn in unseren verschlankten Organisationen die zehn Prozent Ressourcen noch freizubekommen sein?

Wenn Sie Initiativen anstoßen, die den Menschen sinnvoll erscheinen, werden sie die nötige Energie aufbringen. So funktioniert der Mensch nun mal. Er will sich entwickeln und tut es auch.

Wie stößt man denn eine Initiative im „zweiten Betriebssystem“ richtig an?

Häufig geht der Anstoß von der Mitte des Unternehmens aus. Wir dagegen versammeln zuerst das Topmanagement und unterstützen sie dabei, die größten Chancen zu identifizieren. Das muss etwas sein, das sowohl rational überzeugt als auch emotional begeistert. Sie schreiben das in ein oder zwei Absätzen auf und geben es ans Mittelmanagement. Dort werden immer zwei oder drei die Hand heben und fragen „Kann ich mitmachen?“

Dann ist es damit getan, die Idee gut zu verkaufen?

Das Wichtigste ist, ihre Bedeutung herauszustellen. Am Ende sind es dann immer mehr Freiwillige, als man braucht, die im „zweiten Betriebssystem“ die Idee weitertreiben wollen.

Und wie wird im „zweiten Betriebssystem“ gemanagt?

Jedenfalls nicht nach den Regeln eines Top-down-Projektmanagements. Die Leute im „zweiten Betriebssystem“ werden sich selber organisieren. Sie werden das im Rahmen der Leitplanken tun, die das Topmanagement vorgegeben hat. Denn das gibt ihnen Sicherheit. Aber dann starten sie durch.

Gibt es wenigstens Zielvorgaben oder Meilensteine?

Nein. Um Zahlen herum, die das Topmanagement spannend findet, können Sie keine Bewegung formen, die die Dinge vorantreibt. Die Beteiligten werden sich in einer ersten, neuntägigen Arbeitsphase selber Ziele geben und diese mit dem Management abstimmen. In der Regel staunen die Herrschaften dann, wie ambitioniert diese Ziele sind. Denn die zweite Arbeitsphase ist in der Regel bereits nach 90 Tagen abgeschlossen. Der Elan wird bald im ganzen Unternehmen spürbar und immer mehr Leute schließen sich dem Vorhaben an.

Um Zahlen herum, die das Topmanagement spannend findet, können Sie keine Bewegung formen, die die Dinge vorantreibt.
John Kotter

Können mehrere solcher Initiativen gleichzeitig verfolgt werden?

Ja, bis zu sieben nach unserer Einschätzung. Drei davon im 90-Tage-Zyklus, die anderen in eher längeren Zeiträumen. Es muss halt im Griff zu behalten sein.

Synergieeffekte beider Systeme nutzen

Sie schwärmen regelrecht davon, wie befreiend dieses „zweite Betriebssystem“ wirkt. Was wird dann aber aus dem ersten? Erscheint das dann nicht als bloßes Hamsterrad der Routine?

Dass dem so wäre, haben wir noch nie erlebt. Aber sie haben ja eine hohe Durchdringung der beiden Systeme. Die Leute rotieren rein und raus, sobald ein Platz frei wird oder anderes ansteht. Außerdem führt die Arbeit im „zweiten Betriebssystem“ häufig dazu, dass Ineffizienzen oder Absurditäten des „ersten Systems“ offenbar werden und die Leute sie von sich aus abschaffen. So wird auch das „erste System“ eine bessere Arbeitsumgebung.

Und vergibt man sich nicht die Chance, externe Impulse aufzunehmen, wenn man jeden Wandel von innen heraus treiben will?

Sie denken an den Einsatz von Beratern? Die helfen manchmal, Impulse so ins Unternehmen zu tragen, dass sie ernst genommen werden. Aber der Glaube, dass da Leute beraten, die klüger und beschlagener sind als die internen Kräfte, ist naiv. Meist erzählen smarte Berater den eigenen Leuten nur Dinge, die sie ohnehin wissen. Und das kostet auch noch Unsummen. Was für eine Schande! Die wichtigsten Ideen kommen selten einem Topmanager zu Ohren. Dazu braucht es ein System, das hilft, solche zu identifizieren und umzusetzen. Ein solches System ist das „zweite Betriebssystem.“

Sie schreiben, dass dieses „zweite Betriebssystem“ wahre Leader hervorbringt. Sind damit unsere Tools und Techniken der Führungskräfteentwicklung obsolet?

Da bin ich mir nicht sicher. Talentierte Führungskräfte zu identifizieren und zu entwickeln, dabei kann dieses System sicher helfen. Aber wahrscheinlich macht die Kombination der traditionellen Methoden mit diesem Arbeitskontext den Unterschied.

Zu guter Letzt: Verbirgt sich hinter „Accelerate“ wirklich ein Paradigmenwechsel, oder reden Sie nicht doch nur der nächsten Reengineeringwelle das Wort?

Technologie und Globalisierung führen zu einem Grad an Unvorhersehbarkeit und Geschwindigkeit, der wirklich ein neues Paradigma darstellt. Sie werden selbst erleben, wie immer mehr Entscheider ein „zweites Betriebssystem“ in ihren Unternehmen einziehen werden. Darauf verwette ich meinen Kopf.

Das Interview führte Randolf Jessl. Es ist zuerst erschienen in der Zeitschrift Personalmagazin 7/2016.

KEY FACTS

Agiles Betriebssystem zusätzlich zu den stabilen Strukturen aufbauen

Den Wandel von innen heraus treiben

Synergien aus beiden Systemen nutzen

Â