Business Transformation New Work

„Ich war der Chefkritiker des alten Systems“

Analyse Mit besseren Medikamenten zum halben Preis Menschenleben retten – so lautet die Mission von CEO Bill Anderson für Roche Pharmaceuticals. Auf der Konferenz „Teal Around the World“ sprach er über seine Transformationsagenda.

Bill Anderson, CEO von Roche Pharmaceuticals, im Kamingespräch auf der "Teal Around the World"-Konferenz Anfang März.
Bill Anderson, CEO von Roche Pharmaceuticals, im Kamingespräch auf der "Teal Around the World"-Konferenz Anfang März.

Scientific Management eignet sich nicht für die neuen Herausforderungen

Was hierzulande als New Work firmiert, läuft weltweit häufig unter der Bezeichnung „Teal Organization“. Auf der Konferenz „Teal Around the World“ am 4. und 5. März ging es folglich um die Prinzipien, die laut Frederic Lalouxs Buch "Reinventing Organizations" dahinterstecken: Selbstmanagement, Ganzheitlichkeit und evolutionärer Sinn. Bill Anderson, CEO von Roche Pharmaceuticals, war mit von der Partie – in einem virtuellen Kamingespräch mit Mit-Organisator Timm Urschinger, der auch Fragen der Teilnehmenden einfließen ließ.

Keine Utopie, sondern Realitätssinn

„Teal ist für mich ein realitätsbezogener Ansatz, kein utopisches Denken“, erklärte Bill Anderson gleich zu Beginn. Das bisherige Managementdenken eines „Scientific Management“, das auf Command and Control und Spezialistenjobs basiert, habe erstaunliche Dinge für die Menschheit geleistet. Doch es eigne sich nicht, um schnell auf Kundenbedürfnisse zu reagieren – zu viel Abstimmungsbedarf sei dafür nötig. Gehaltssysteme, Anreizpläne, Karriereleitern – all das sind für den Pharma-Manager Hilfskonstrukte, mit denen man versuche, die Crux des Systems auszugleichen: dass Unternehmen aus Menschen für möglichst wenig Geld das meiste herausholen möchten. „Wir haben diese grundsätzliche Spannung zwischen Beschäftigten und einem Unternehmen.“ Nun gehe es aber darum, den Wunsch nach Leistung in einer authentischen Gemeinschaft mit persönlichem Wachstum zu verbinden. „Wir versuchen bei Roche ein altes Unternehmen zu verwandeln, um die Arbeit erfüllender und interessanter zu machen, aber auch, um unsere Produktivität im Sinne der Mission erheblich zu steigern.“

Wir versuchen bei Roche ein altes Unternehmen zu verwandeln, um die Arbeit erfüllender und interessanter zu machen, aber auch, um unsere Produktivität im Sinne der Mission erheblich zu steigern.
Bill Anderson, CEO, Roche Pharmaceuticals

Menschenleben zu retten sei eine edle Mission. Doch es gehe nicht nur um bessere Medikamente, um Krebs oder Alzheimer zu heilen. „Die Welt muss sich die Heilmittel auch leisten können.“ So habe man neben dem Fokus auf Innovation einen sozialen Aspekt hinzugefügt, den Preis der Medikamente über die Zeit um die Hälfte zu reduzieren. „Drei- bis fünfmal mehr Wert bei der Hälfte der Kosten – das gibt den Menschen jeden Tag neue Orientierung.“

Menschen coole Sachen machen lassen

„Wir reden nicht darüber, dass die Leute härter arbeiten sollen. Wir haben zu viele Beschäftigte, die hart arbeiten, mit zu wenig Ergebnissen“, zeigte sich der CEO von Roche Pharmaceuticals überzeugt. Zum Glück hingen Spaß bei der Arbeit und Leistung auf positive Art und Weise zusammen. „Menschen wollen coole Sachen machen.“ Wer seine Arbeit gern tue, brauche keine Incentives von außen. Wie viele der Jobs bei Roche tatsächlich ein Maximum an „Awesomeness“ böten – darauf wollte sich Bill Anderson nicht festlegen. Das habe man nicht erhoben. Und überhaupt sei ja nicht klar, welcher Prozentsatz hier ein gutes Ergebnis wäre – 30 Prozent der Jobs, die Menschen in Flow bringen, oder gar 70?

Nicht jeder ist auf der Reise zur Teal Organization gleich weit. 

Dass der Übergang von einer traditionellen Konzernwelt zu „teal“ nicht einfach ist, gesteht der CEO jedoch ein. Spezialistenjobs auflösen, Führungsjobs reduzieren, Prozesse ändern – „nicht jeder ist auf der Reise gleich weit“. Man habe etwa die Budget-Planung komplett abgeschafft, weil sie keinen Mehrwert bringt. „Es wird kein Patient davon geheilt, wenn wir Prognosen erstellen.“ Budgets hätten in dem Konzern etwas Magisches an sich gehabt. Dabei handle es sich nur um eine Zahl, die man über Monate verhandelt – und die größtenteils mit „Sandkastenspielen“ und Besitzstandswahrung einhergingen.

Budget-Prozesse sind eine Verschwendung von menschlichem Potential.
Bill Anderson, CEO, Roche Pharmaceuticals

„Jahrzehntelang war ich an inkrementellen Änderungen beteiligt und konnte sehen, wie es immer schlimmer wurde.“ Die Menschen hatten nichts an ihrem Arbeitsumfeld auszusetzen, aber sagten immer wieder, dass sie die eigentlich wichtigen Dinge nicht hinkriegen. Budgetplanungen hatte Bill Anderson 30 bis 40 im Jahr, manchmal 8 bis 10 am Tag – Manager verbrächten teils die Hälfte ihrer Zeit damit. „Man hätte einfach eine Präsentation mitschneiden und bei der nächsten wieder abspielen können. Budget-Prozesse sind eine Verschwendung von menschlichem Potential.“

Alte Glaubenssätze über Bord werfen

Am Tiefpunkt dieser inkrementellen Veränderungen, die alles nur schlimmer machen, fing Bill Anderson an, Führungskräfte und Einzelpersonen aus der ganzen Organisation auf verschiedenen Ebenen zusammenzubringen und über Prozesse und ihren Mehrwert zu diskutieren. „Das war der Punkt, an dem wir wirklich in der Wildnis umherwanderten und uns mit grundlegenden Fragen auseinandersetzen mussten, wie zum Beispiel: Wie sollen die Ressourcen verteilt werden?“ Doch wenn eine Aktivität nicht zu einem besseren Leben für die Patienten führe, gelte es, sie zu unterlassen und mit Kollegen nach Alternativen zu suchen. „Wir müssen das Erbe unseres Industriezeitalter-Denkens abwerfen.“ In einem hierarchischen System neige man dazu zu glauben, je höher man in der Hierarchie aufsteige, desto brillanter sei man. „Wenn wir Hierarchien abbauen, kann sich die Brillanz viel besser an allen möglichen Stellen ausdrücken – sei es in der Wissenschaft, in der Medizin oder bei innovativen Führungsansätzen.“

Wenn wir Hierarchien abbauen, kann sich die Brillanz viel besser an allen möglichen Stellen ausdrücken – sei es in der Wissenschaft, in der Medizin oder bei innovativen Führungsansätzen.
Bill Anderson, CEO, Roche Pharmaceuticals

Viele Menschen fallen laut dem CEO jedoch leicht in alte Verhaltensmuster, weil sie denken, das gehöre sich so. Nicht alle Manager waren von seinem Kurs begeistert. „Anfangs war ich der Chefkritiker des alten Systems. Veränderung wird erst einfacher, wenn eine echte Gruppenanstrengung dahintersteht.“ Man müsse je nach Bereich etwas anderes fokussieren. „Wenn Sie in der Vertriebs- und Marketingorganisation arbeiten, stellen Sie den Kunden in den Mittelpunkt – in der Forschung das Molekül oder das Ziel eines Medikaments.“

Happy or not? Warum Metriken zur alten Welt gehören

Zu Beginn der Unternehmenstransformation brachte man bei Roche Pharmaceuticals an allen Eingängen "Happy or not"-Knöpfe an, mit denen die Beschäftigten täglich angeben konnten, ob sie einen Fortschritt für die Patienten erreicht hatten. Nach einem Jahr stellte das Unternehmen jedoch fest, dass sich auf der Punkte-Skala kaum etwas veränderte. Der Grund: Was sich änderte war die Art und Weise, wie streng sich die Beschäftigten bewerteten – was sich mit dem Tool nicht abbilden ließ. So schaffte man es eben wieder ab. „Bevor wir mit der Transformation begannen, waren wir süchtig nach KPIs und Metriken. Wir waren unglaublich gut darin geworden, uns damit etwas vorzumachen.“ Bill Anderson erzählt von einer Produkteinführung, deren Erfolg man mit sechsundzwanzig KPIs zu messen versuchte. 90 Tage nach der Einführung war die Scorecard in allen Punkten grün. „Die Kunden liebten unsere Medizin, aber sie hassten es, wie bürokratisch wir waren. Man muss unglaublich skeptisch sein, ob KPIs wirklich Fortschritte messen.“ Roche Pharmaceuticals habe deshalb die Metriken reduziert und schaue sich genau an, was sie bewirken und ob Veränderungsbedarf besteht.

Wir wollen nicht die menschliche Natur umgestalten, sondern das Geschäft und die Arbeit – nämlich so, dass sie produktiver ist und auch für die Beschäftigten lohnenswerter.
Bill Anderson, CEO, Roche Pharmaceuticals

Beim Geld hört der Spaß auf

So sehr der Top-Manager auf Veränderung pochte, beim Thema Geld, Anreize und Belohnungssysteme zeigte er sich zögerlich. „Jeder hat einen Anspruch auf einen Bonus, aber der Bonus der meisten Leute macht nicht so viel Prozent ihres Gehalts aus. Anreizsysteme sind immer noch wichtig, aber nicht sehr wichtig.“ Niemand komme wegen des Bonus zur Arbeit. Beschäftigte sollten sich auf die Mission konzentrieren. Eine Veränderung des Bonussystems könne aber dazu führen, dass man dem Anreiz zu viel Beachtung schenke – und so den Unternehmenswandel blockiere. Doch wozu ist der Bonus da, wenn die Menschen nicht den dahinterliegenden Zielen, sondern auf Bedarf anderen Notwendigkeiten folgen sollen? Aus Sicht der Motivationsforschung sind Zweifel angebracht, ob dieser Ansatz funktioniert – hier wirkte der Unternehmenslenker nicht ganz überzeugend.

Wie „Teal“ ist Roche wirklich?

Im Chat des Kamingesprächs entspann sich parallel ein reger Diskurs über die „Tealness“ der Unternehmenspraxis bei Roche Pharmaceuticals. „Was bedeutet es, dass das CEO-Gehalt das 200-fache des durchschnittlichen Mitarbeitereinkommens beträgt?“, lautete dort eine Frage. Zum tealen Gedanken von Ganzheitlichkeit schien das nicht recht zu passen.

Wie wirkt sich die Tatsache, dass die Familien Hoffmann und Oeri die Mehrheit der Aktien besitzen, auf die Mission und Kultur des Unternehmens aus? Wie selbstorganisiert ist Roche tatsächlich und inwiefern geben Manager Macht ab? Nicht auf alle Fragen gab es eine Antwort. Doch die Zuhörer schienen sich einig, dass die Übergänge auf dem Weg zur tealen Organisation fließend sind.

Bill Anderson jedenfalls ließ keinen Zweifel daran, dass es bei der tealen Organisation für ihn nicht um Perfektion geht. Silos komplett abzubauen – das werde in einem so großen Unternehmen wie Roche nie komplett gelingen. „Menschen sind alle zu erstaunlicher Anmut, Selbstlosigkeit und Kreativität fähig, aber sie sind auch egoistisch, starrköpfig und kleinlich. Wir wollen nicht die menschliche Natur umgestalten, sondern das Geschäft und die Arbeit – nämlich so, dass sie produktiver ist und auch für die Beschäftigten lohnenswerter.“