New Management Talks The Next Normal

„Organisationen leben im Zustand der Schizophrenie“

„Organisationen stehen unter Spannung. Es entstehen neue Spannungsfelder oder bestehende werden neu ins Licht gerückt“. Meint Judith Muster von Metaplan. Jetzt werde sichtbar, was alles möglich sei in Organisationen. Ein Gespräch über das nächste Normal.

Organisationen in Spannungsfeldern

Es gibt eine Universalerfahrung, die fast alle Unternehmen im Moment machen: „Organisationen stehen unter Spannung. Es entstehen neue Spannungsfelder oder bestehende werden neu ins Licht gerückt“, sagt die Organisationssoziologin Judith Muster, Partnein bei der Organisations- und Strategieberatung Metaplan, im New Management Talk. Wie gut Organisationen mit diesen Spannungen umgehen können, ob sie konstruktive oder destruktive Kräfte freisetzen, hänge davon ab, wie sie vor Corona gehandelt haben. „Wie stark waren sie auf Effizienz getrimmt? Wie abhängig waren sie von Lieferanten? Wie zentral oder dezentral wurden Entscheidungen getroffen? Das alles bestimmt, wie Unternehmen im Moment agieren“, erklärt Muster.

Organisationen agieren gleichzeitig dezentral, von den Rändern aus, und werden zentral geführt.
Judith Muster, Organisationssoziologin und Partnerin bei Metaplan

Diese Spannungen beschreibt Judith Muster mit dem Begriff Schizophrenie. Metaplan hat gemeinsam mit Haufe eine qualitative Studie zum Corona-Management von Unternehmen durchgeführt (noch nicht veröffentlicht). Diese zeige: „Während in nahezu allen Unternehmen die Arbeit dezentralisiert wurde, die MitarbeiterInnen von zuhause aus arbeiten, wurden Entscheidungen zentralisiert. Organisationen agieren gleichzeitig dezentral, von den Rändern aus, und werden zentral geführt. Das beste Bild dafür ist für uns eben Schizophrenie“, meint Muster.

Das Besondere an der aktuellen Situation sei, dass es keinen Referenzrahmen gebe. Die meisten Unternehmen hätten natürlich Notfallpläne und Alarmierungssysteme vorbereitet. Aber eben nicht für einen kompletten Lockdown, wie wir ihn in den vergangenen Wochen erlebt haben. Insofern sei die Lage unvergleichlich. „Und deswegen können wir nicht sagen, ob sich Unternehmen mehrheitlich gut schlagen oder nicht. Denn weder wir noch die Unternehmen selbst können ihr Handeln mit irgendetwas vergleichen.“

Das ist natürlich enttäuschend für viele Führungskräfte, wenn sie merken, dass sie gar nicht immer gebraucht werden, um Dinge voranzutreiben

Die erwähnte Studie mache allerdings eine Sache deutlich: Die allermeisten Befragten begreifen das, was sie gerade erleben und gestalten, als Lernerfahrung. Sie sehen, was in Unternehmen, in Teams alles möglich ist. Und dass auf einmal Dinge ganz schnell umgesetzt werden, die vorher schier unmöglich schienen: digitale Zusammenarbeit, neue Tools, remote work, hierarchieübergreifende Zusammenarbeit etc. „Die meisten Interviewpartner wollen diese agilen Strukturen, die quasi über Nacht entstanden sind, auch nach dem Ende der Akutphase beibehalten“, sagt Judith Muster. „Weil sie sehen, was die Organisationen bislang verpasst haben beziehungsweise was die Menschen und die Organisationen alles können.“  Und noch etwas:: „In der Informalität, die gerade herrscht, findet sich ganz viel Innovation. Das war schon vorher so, aber jetzt wird es sichtbar. Über diese etablierten Workarounds kann man jetzt sprechen in den Unternehmen. Diese Chance wollen viele nutzen.“

Innovation in der Informalität

Eine Erfahrung, die viele MitarbeiterInnen machen, sei eben, dass sie kreativer und auch produktiver agieren können, wenn enge Kontrollen Homeoffice-bedingt nicht möglich seien. „Das ist natürlich enttäuschend für viele Führungskräfte, wenn sie merken, dass sie gar nicht immer gebraucht werden, um Dinge voranzutreiben“, sagt Muster. „Aber das bietet große Chancen. Denn auf einmal kommen Menschen aus der Deckung und führen, die das vorher nicht gemacht haben oder denen man es nicht zugetraut hat. Mit denen gemeinsam Dinge nach vorne zu bringen – das ist jetzt Aufgabe von Führung.“