Premium Cola: Von Grund auf anders

Einheitslohn, frei wählbare Arbeitszeiten, Mitspracherecht – das Unternehmen Premium Cola versucht seit fast zwei Jahrzehnten, Arbeit neu zu denken.

Premium Cola möchte nicht nur Getränke unter die Leute bringen, sondern auch die Idee einer anderen Art von Zusammenarbeit. Foto: Till Gläser
Premium Cola möchte nicht nur Getränke unter die Leute bringen, sondern auch die Idee einer anderen Art von Zusammenarbeit. Foto: Till Gläser

Wenn Elena Tzara gefragt wird, wo sie arbeitet, hat sie zwei Antworten parat – je nachdem, mit wem sie spricht und wie viel Zeit sie für die Antwort und das darauf folgende Gespräch verwenden möchte. Hat sie weder Zeit noch Geduld, sagt sie: „Ich arbeite in einem Getränkeunternehmen.“ Das Getränkeunternehmen trägt den Namen Premium Cola und wurde vor fast 18 Jahren von dem Hamburger Uwe Lübbermann gegründet. Auch diese Gründungsgeschichte hat zwei Versionen. Die kurze: Uwe Lübbermann bemerkt eines Tages, dass die Rezeptur seiner Lieblingscola verändert wurde. Er möchte das nicht hinnehmen und bekommt während seines Protests das Originalrezept des Getränks zugespielt. Er lässt ein paar Flaschen seiner Lieblingscola abfüllen, verkauft das Getränk an weitere Fans der Rezeptur und gründet so, sozusagen aus Versehen, eine neue Getränkemarke.

Elena Tzara Foto: Till Gläser
 „Wir versuchen, Kapitalismus anders zu denken“, sagt Elena Tzara. Foto: Till Gläser

Dass das Unternehmen auf mehr beruht als nur der Sehnsucht nach einem altbekannten Geschmack, macht Elena Tzaras lange Antwort auf die Frage, wo sie arbeitet, deutlich: „Ich arbeite in einem Kollektiv, das Getränke produziert“, sagt sie dann. „Das Produkt ist allerdings nebensächlich.“ Die Cola und die anderen Getränke, die unter dem Namen vermarktet werden, sind austauschbar. Das eigentliche Produkt ist die Vision: „Wir beweisen seit 17 Jahren, dass man Wirtschaft völlig anders strukturieren könnte, wenn man wollte“, sagt Elena Tzara. „Wir versuchen, Kapitalismus anders zu denken.“

Wer sich Premium Cola nun als Hippiekommune oder gar als trendiges Unternehmen mit Sitz am Hamburger Hafen inklusive Obstteller, Tischkicker und Großraumbüro vorstellt, irrt sich. Tatsächlich kann man das Unternehmen gar nicht besuchen – außer natürlich virtuell.

Bei der Suche nach einem Ansprechpartner stößt man auf der Homepage des Unternehmens schnell auf Anna-Lilja Moll. „Ich bin die erste Anlaufstelle für Menschen, die etwas über Premium Cola wissen wollen“, erzählt sie am Telefon. Außerdem betreut sie Vertriebsgebiete, trägt die Produktverantwortung für mehrere Getränkesorten und erledigt „kleinere Sachen“, wie sie sagt. Richtige Stellenbezeichnungen gibt es bei Premium Cola nicht, ebenso wenig wie „richtige“ Büros. Anna-Lilja Moll arbeitet in ihrer Wohnung in Flensburg. Mit den KollegInnen kommuniziert sie per E-Mail und Telefon. Und über „das Board“, das Herzstück von Premium Cola: Ein Chatraum und Abstimmungstool, zu dem alle KollektivistInnen Zugang haben.

Mitbestimmung statt Meetings

KollektivistInnen, das sind nicht nur die neun bis zehn Selbstständigen des Organisationsteams oder die rund 30 selbstständigen SprecherInnen, die den Kontakt zum Handel und zur Gastronomie pflegen, sondern alle Beteiligten: „Hersteller, Spediteure, Händler, Gastronomen und insbesondere auch Konsumenten. Jede/-r der/die mal eine Flasche getrunken hat, ist ein Beteiligte/-r und kann mitlesen sowie mitreden.“ So wird die Erklärung zum Premium-Kollektiv auf der Homepage eingeleitet. Damit Beteiligte einen Zugriff auf das Board bekommen, und somit an Abstimmungen teilnehmen können, müssen ein paar weitere Voraussetzungen gegeben sein. „Wir wollen die Person kennenlernen“, erklärt Anna-Lilja Moll, „und in ein paar Sätzen ihre Motivation erfahren. Der Zugang ist wirklich sehr niedrigschwellig.“

Aktuell befinden sich 260 stimmberechtigte Personen auf dem Board. Müssen sie alle zustimmen, bevor bei Premium Cola irgendeine Entscheidung getroffen werden kann? „Das ist eine klassische, falsche Vorstellung, dass bei uns unglaublich viel abgesprochen werden muss und jede Entscheidung länger dauert als in herkömmlichen Unternehmen“, sagt Anna-Lilja Moll. Dabei sei alles gar nicht so kompliziert. „Zunächst einmal darf ich alleine über Dinge entscheiden, die mich und meine Aufgabengebiete betreffen.“ Daneben gebe es Gruppenentscheidungen, die innerhalb der betroffenen Gruppe gefällt werden. „Nur die Gesamtentscheidungen kommen aufs Board. Dort kann jeder jede Entscheidung jederzeit verhindern, aber es müssen nicht alle Boardmitglieder aktiv zustimmen, damit eine Entscheidung gefällt werden kann.“ Ein großes Offline-Treffen gibt es einmal im Jahr. Das Organisationsteam trifft sich einmal im Monat per Telefonkonferenz.

Foto: Premium Cola
Im Premium Kollektiv werden Entscheidungen nach dem Konsensprinzip gefällt.  Foto: Premium Cola

Nicht nur mit dem Vetorecht möchte Premium Cola alle Stakeholder zu Beteiligten machen. Tatsächlich gibt es ein eigenes Betriebssystem. Das ist der Rahmen für die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Interessengruppen. Ein Einheitsgehalt für alle MitarbeiterInnen, inklusive Kinderzuschlag, keine hierarchischen Strukturen, kein Gewinnstreben auf Kosten anderer und verbindliche Vereinbarungen, die ohne Verträge geschlossen werden. Das sind nur ein paar der Stichpunkte, die Premium Cola fast schon wie eine utopische Firma erscheinen lassen.

Unternehmensziel: Beweisen, dass es anders geht

Gründer Uwe Lübbermann ist sich dieser Wirkung bewusst. „Ich habe mir mal den Spaß erlaubt und bei einer Präsentation im Ausland so getan, als ob Premium Cola nur mein Gedankenexperiment und kein real existierendes Unternehmen wäre“, erzählt er. Das Erstaunen sei groß gewesen, als die ganzen vorgestellten Hypothesen am Ende der Realität wurden. „Es wissen leider viel zu wenige, dass es verschiedene Perspektiven auf Wirtschaft geben kann. Aber es gibt uns. Wir sind eine belegbare Grundlage“, sagt Uwe Lübbermann.

Anna-Lilja Moll, Elena Tzara, Uwe Lübbermann und ein paar weitere KollektivistInnen sprechen regelmäßig bei Veranstaltungen, in Universitäten und in Unternehmen über ihre Arbeit. Das Konzept Premium Cola ist längst ein Türöffner für Beratungstätigkeiten in Firmen geworden. Die Ratschläge der KollektivistInnen sind oft dieselben. „Eine eigentlich banale, aber sehr wichtige Herangehensweise ist, dass man die Kommunikation auf jeden ausweitet, der betroffen ist“, sagt Anna-Lilja Moll. Wenn Unternehmen beginnen würden, bei ihren Planungen externe Dienstleister, LieferantInnen, KundInnen, eben alle Betroffenen mitanzuhören und auf deren Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen, könne viel Potenzial gehoben werden.

Bei Premium Cola selbst hat sich dieser Austausch nicht nur in der Mitbestimmung über das Board manifestiert. Das Unternehmen arbeitet außerdem ohne schriftliche Verträge. Vereinbarungen hätten bei Premium Cola keine Laufzeit und bräuchten deshalb keine Schriftlichkeit. Wenn ein Spediteur seinen Liefertermin nicht einhalten kann, kann er mit Verständnis rechnen. Geht somit nicht unglaublich viel Planbarkeit und Verlässlichkeit verloren? „Das Gegenteil ist der Fall“, sagt Uwe Lübbermann, „weil wir dieses Konstrukt so beweglich halten, haben wir in der Summe mehr zufriedene Menschen. Ich könnte heute die Zusammenarbeit mit allen Partnern einstellen. Sie aber auch mit mir. Deshalb müssen wir uns alle gegenseitig so behandeln, dass die andere Seite freiwillig dabei bleibt.“ In 17 Jahren Betrieb sei es bei Premium Cola zu keinem Rechtsstreit mit einem der 1.700 gewerblich PartnerInnen gekommen. „Das muss uns erst einmal jemand nachmachen.“

Überzeugungsarbeit zwischen Pessimismus und Pragmatismus

Das mit dem Nachmachen ist scheinbar nicht so einfach. Selbst wenn sich Uwe Lübbermann in seinen vielen Vorträgen so anhört, als ob er von den banalsten und logischsten Schlussfolgerungen überhaupt spreche. Das Modell Premium Cola ist ein Exot. „Wir sind seit 17 Jahren am Markt und beweisen, dass es anders geht. Wir machen seit zehn Jahren Veranstaltungen und seit sieben Jahren begleiten wir andere Firmen. Es verändert sich in der Wirtschaft aber praktisch gar nichts.“ Er frage sich manchmal, warum alles so lange dauert. Und das, obwohl er damit einen seiner eigenen Ratschläge, die er Firmen gibt, missachtet: Veränderungen brauchen Zeit.

Uwe Lübbermann Foto: Funkenzeit.de
Er frage sich manchmal, warum die Veränderungen in der Arbeitswelt so lange dauern, sagt Uwe Lübbermann.  Foto: Funkenzeit.de

Grund für seine Frustration ist unter anderem der aktuelle Hype um New Work. „Bei New Work wird es als etwas Neues verkauft, sich um Menschen zu kümmern.“ Die notwendigen Schlüsse würden die Unternehmen dennoch nicht ziehen.
Allerdings profitiert Premium Cola selbst von dem Hype. Uwe Lübbermann war in diesem Jahr Speaker bei Xing New Work Events. Wenn die KollektivistInnen Unternehmen beraten, dient das dem Zweck der Gewinnmaximierung beziehungsweise des Kostensparens. Hier wird der Gründer vom Pessimisten zum Pragmatiker: „Ich gehe nicht in ein Unternehmen und rede über meine gesamtgesellschaftliche Hippietheorie. Also davon, dass Menschenrechte auch in der Wirtschaft Bestand haben sollten. Dann hätte ich schon viele Leute verloren. Ich gehe andersherum ran und biete einem Unternehmen Lösungen an, um Kosten zu sparen.“ Die Lösungen beruhten allerdings auf den Prinzipien des Kollektivs, wie etwa der Herangehensweise, mit allen Betroffenen an einer Verbesserung der Situation zu arbeiten.

Elena Tzara erzählt, dass sie früher der Meinung war, dass es so etwas wie einen radikalen Bruch geben müsse, damit sich Arbeitswelten und Wirtschaftsmodelle ändern. Heute denkt sie anders darüber: „Es kann einen Wandel geben, der aus der jetzigen Situation heraus entsteht.“ Den Unternehmen raten die KollektivistInnen deshalb, bestehende Strukturen nicht von heute auf morgen abzuschaffen. „Behaltet die Strukturen, nutzt sie aber so wenig wie möglich“, sagt Uwe Lübbermann.

Formale Führung trifft auf gelebte Überzeugung

Ganz ohne Formalitäten kommt auch Premium Cola nicht aus. Uwe Lübbermann gehört die Getränkemarke. Auf dem Papier ist er der Geschäftsführer. In einer Notsituation, wie etwa einem Produktrückruf oder in einer Pattsituation, darf er entscheiden. „Diese Entscheidungshoheit habe ich bisher drei Mal genutzt“, sagt er. Fragt man ihn, was mit dem Unternehmen passieren würde, sollte er gehen, redet der Gründer schon über sein Testament. „Ich kann gar nicht gehen. Für mich ist Premium Cola wie ein Kind.“ Ein Satz wie aus dem Mund eines Firmenpatriarchen. „So sehe ich meine Rolle nicht“, widerspricht Uwe Lübbermann. Selbst die Entscheidung, wer laut Testament die Markenrechte erhalten soll, werde im Konsens entschieden. „Ich bestimme nicht über andere Menschen und ich leite aus meiner Rolle nicht das Recht ab, die gemeinsam erwirtschafteten Gewinne aus dem Unternehmen zu entnehmen.“ Das tiefe Unbehagen mit dem, wie er es nennt, „unnormalen Wirtschaftssystem“ sei schließlich überhaupt erst der Grund gewesen, warum es Premium Cola gebe.

Einstiegshürde Selbstorganisation

Und arbeiten die MitarbeiterInnen auch gerne in diesem außergewöhnlichen Unternehmen?

Anna-Lilja Moll Foto: Till Gläser
 „Ich möchte nicht, dass mein Arbeitgeber darüber bestimmt, wann ich jeden Tag aufstehe, wo ich wohne und wie viel Zeit ich für Dinge wie Urlaub zur Verfügung habe“, sagt Anna-Lilja Moll.  Foto: Till Gläser

„Wir haben eine extrem geringe Fluktuation“, sagt Anna-Lilja Moll. Über einen Mangel an BewerberInnen könnten sie sich nicht beschweren. „Allerdings bekommen wir viele Anfragen von Leuten, die mitmachen wollen und aus deren Vorhaben am Ende dann doch nichts wird.“ Neue MitarbeiterInnen werden laut Anna-Lilja Moll zunächst mit einer kleineren Aufgabe vertraut gemacht. „Anschließend schafft sich jeder seine eigene Stelle, indem man Aufgaben übernimmt oder neue schafft.“ Die geforderte Eigeninitiative und die Eigenverantwortung seien tatsächlich große Hürden. Obwohl Selbstorganisation in den vergangenen Jahren bereits in vielen Unternehmen thematisiert und zum Teil gefördert wurde, erleben die Premium-Cola-KollektivistInnen immer wieder, wie fest hierarchische Strukturen in den Köpfen verankert sind. „Viele Menschen sind geschädigt und können gar nicht mehr selbstbestimmt und frei arbeiten, auch wenn sie es wollen“, sagt Uwe Lübbermann.

Bei Elena Tzara war das anders. Vor fünf Jahren begann ihre Arbeit bei Premium. „Der Start fiel mir nicht schwer“, erzählt sie, „ich arbeite für eine ehrenamtliche Organisation, die ich mitgegründet habe. Von dort waren mir einige Arbeits- und Herangehensweisen vertraut.“ Wie viele Stunden sie wöchentlich für Premium Cola arbeitet, kann sie nicht genau sagen. Mit dem Einheitslohn von 20 Euro die Stunde kommt sie gut über die Runden. „Ich verdiene mit Premium Cola meinen Lebensunterhalt, als Vollzeitjob würde ich es aber nicht bezeichnen.“ Dafür habe sie noch genügend andere Dinge, mit denen sie sich ebenso gerne beschäftige. „Meine ehrenamtliche Arbeit kann ich nur deshalb in diesem Umfang machen, weil ich einen Beruf habe, mit dem ich genug verdiene und zeitlich flexibel bin.“ Trotzdem fühle sie sich als Teil des Unternehmens. „Ich glaube, die meisten bei Premium haben ein starkes Zugehörigkeitsgefühl. Weil wir eben alle gleichberechtigt in Entscheidungen involviert sind.“ Auch Anna-Lilja Moll kann sich nicht vorstellen, irgendwann einmal in einem Unternehmen zu arbeiten, in dem sie weniger Freiraum zur Verfügung hat. „Ich möchte nicht, dass mein Arbeitgeber darüber bestimmt, wann ich jeden Tag aufstehe, wo ich wohne und wie viel Zeit ich für Dinge wie Urlaub zur Verfügung habe“, sagt sie. Genauso wichtig sei es ihr, dass die Arbeit ihren Werten entspricht, sie eine Vorbildfunktion einnehmen und andere mit Vorträgen und Workshops inspirieren kann: „Ich kann sagen, dass ich in einem Unternehmen arbeite, das zeigt, wie es anders geht. Man kann ökologisch, nachhaltig, sozial, mit Einheitslohn, mit Konsensdemokratie und ohne Verträge arbeiten und es funktioniert.“