Change Management Agilität

„Was wir jetzt üben, könnten wir in die Zukunft retten“

Martin Kompan verantwortet als Lead Agile Coach bei Dr. Oetker einen kulturellen Wandel in Richtung mehr Agilität. Der Österreicher, der selbst schon länger remote mit Kollegen in Bielefeld und weltweit zusammenarbeitet, sieht die Chance, dass sich durch den Großversuch Homeoffice neue Routinen für New Work entwickeln können.

Neue Routinen für New Work dank Corona? Martin Kompan von Dr. Oetker hat Hoffnung.
Neue Routinen für New Work dank Corona? Martin Kompan von Dr. Oetker hat Hoffnung.

Vor allem auf der Wir-Ebene

Herr Kompan, auch bei Dr. Oetker arbeiten nun viele Beschäftigte im Homeoffice. Wo drückt Ihren Kollegen am Anfang vor allem der Schuh?

Das ist sehr unterschiedlich. Manche haben zunächst Probleme mit der Technik, brauchen erst ein Headset und müssen alle Apps einrichten. Dann sind da auch private Dinge, der Hund und die Kinder beispielsweise – die Kollegen müssen ihren Tag neu organisieren. Wir unterscheiden im Coaching drei Dimensionen: Zum einen die „me/ich“-Ebene, also wie jeder selbst seine Arbeit strukturiert, die „we/wir“-Ebene, wie wir als Team zusammen agieren, und die Unternehmensebene. Wir sind vor allem auf der Teamebene unterwegs und unterstützen Führungskräfte dabei, wie sie die Teamarbeit in der neuen Situation verbessern können.

Was heißt das im Moment konkret für Ihre Arbeit?

Wir operieren aus dem Bereich „People & Culture“, also als Teil von HR, und machen allen Kollegen Angebote für agiles Arbeiten. Dazu gehören auch spezifische Aktivitäten wie eine Art Sprechstunde zu Remote Work. Aber wir bieten auch explizit Coachings für Teams, die unsere Hilfe anfragen. Für uns als Agile Coaches ist die momentane Situation in gewisser Weise eine Chance, auch wenn wir uns die Umstände natürlich anders gewünscht hätten. Aber seit einem Jahr arbeiten wir daran, dass wir von einem Push- in einen Pull-Modus kommen – sprich, dass die Beschäftigten bei uns aktiv nach agilen Methoden fragen, weil sie die Notwendigkeit dafür sehen. Das ist nun gegeben.

Und vorher hatten sie diese Notwendigkeit nicht?

Viele agile Methoden zielen darauf ab, unsere Probleme im Arbeitsalltag besser zu meistern. Wir merken alle immer öfter, dass wir mit alten Arbeitsweisen ein Zeit-Problem haben. Und natürlich lassen sich auch dezentrale, internationale Teams besser managen. Aber vorher fehlte den Kollegen oft der Bogen, warum agiles Arbeiten ihnen konkret helfen könnte. Warum sollten sie diese ganzen Tools nutzen? Sie waren ja alle im Büro und konnten sich jederzeit treffen.

Agile Coaching – vom Push zum Pull

Wie helfen agile Methoden nun, den Arbeitsalltag im Homeoffice besser zu bewältigen?

Wir arbeiten vor allem mit einer Kombination aus Scrum und Kanban, eng angelehnt an das agile Manifest. Und wir nutzen Teamboards, die Aufgaben transparent machen, sowie verschiedene Meeting-Formate wie Dailys, Weeklys, Virtual Coffee Breaks oder Digital Lunch, um den arbeitsbezogenen und privaten Austausch zu unterstützen. Mit unserem Tool „Team Vision“, eine Art Team Canvas, können die Teams ihren Selbstfindungsprozess reflektieren.

Vor Corona und Homeoffice fehlte den Kollegen oft der Bogen, warum agiles Arbeiten ihnen konkret helfen könnte.
Martin Kompan, Dr. Oetker

Braucht es am Anfang mehr Regeln, um diesen Selbstfindungsprozess zu begleiten und damit die Teammitglieder die neuen Methoden lernen können?

Regeln klingt zu hart. Wichtiger ist für den Lernprozess, dass wir Dinge einfach machen. Wir erleben gerade viele Experimente. Da fängt man eine Session mit Google Hangouts an, wenn es nicht funktioniert, wechselt man on-the-fly zu einem anderen Tool und wenn da gerade die Kapazitäten überlastet sind, versucht man es mit MS Teams. Anfangs hapert es noch an vielen Stellen, die Leute sprechen gleichzeitig, lassen trotz Hintergrundgeräuschen ihre Mikros an. Aber mit der Zeit entwickelt sich so etwas wie ein Best Practice und das ist dann schnell Common Sense. So ein kleiner Mini-Hack bei uns ist zum Beispiel, dass man „Check“ sagt, wenn der eigene Redepart zu Ende ist. Das entsteht im Optimalfall nach dem Tipping-Point-Prinzip: Early Adopter machen positive Erfahrungen und stecken die Leute an, die vielleicht am Anfang noch Probleme haben, sich dazu zu motivieren.

Funktionieren agile Methoden wie Scrum oder Kanban digital anders als analog?

Die Formate sind digital eigentlich nicht viel anders als in der analogen Welt. Doch es hängt etwas von der Zeitschiene ab. Wenn es um Tagesworkshops geht, ist es schon etwas anders. Das geht einfach physisch nicht, dass man acht Stunden vor dem Rechner und der Kamera sitzt – oder man schreckt die Leute so ab, dass sie nie mehr bei so einem Workshop dabei sein möchten. Die erste Reaktion der Führungskräfte ist dann oft, sowas lieber gleich ganz abzusagen. Doch wir wissen ja nicht, wie lange die aktuelle Situation noch dauern wird. Sollen wir dann bis September oder im worst Case noch länger warten? Dann sind wir irgendwann handlungsunfähig.

Aber es gibt Möglichkeiten, auch einen Tagesworkshop digital zu machen?

Ja, beispielsweise indem man den Input in Themenblöcke schneidet, Tools für digitale Whiteboards nutzt und genügend Pausen einplant. Wir haben kürzlich auch einen digitalen Fishbowl überlegt: Die Gruppe, die sonst in der Mitte sitzt und diskutiert, hat nun im Video-Chat die Kamera an. Wer mitdiskutieren möchte, macht im Chat eine Meldung und so wechseln dann die Personen durch. Allgemein gilt: Agile Methoden funktionieren vor allem dann gut, wenn sich die Führungskräfte zurückziehen und das Team selbständig in Abstimmung agieren kann.

Es ist zwar möglich, auch auf Distanz eng zu führen, aber dabei stoßen Führungskräfte schnell an ihre Grenzen.
Martin Kompan, Dr. Oetker

Es geht um Vertrauen

Wie meistern die Führungskräfte bei Dr. Oetker bisher die Umstellung?

Man lernt in außergewöhnlichen Situationen oftmals sehr schnell. Bei Führungskräften geht es vor allem um das Thema Vertrauen. Es ist zwar möglich, auch auf Distanz eng zu führen, aber dabei stoßen Führungskräfte schnell an ihre Grenzen. Man kann nicht zehn Leute jeden Tag durchtelefonieren, um zu kontrollieren, ob sie auch arbeiten. Die Führungskräfte haben ja auch noch etwas anderes zu tun und so regelt sich das ganz von alleine. Sie müssen nun vertrauen, weil es nicht anders geht.

Welche Form der Unterstützung bekommen Führungskräfte beim Selbstmanagement?

Wir möchten Austauschmöglichkeiten für Führungskräfte organisieren und eine Art Community of Practice aufbauen. Das war schon vor der Krise geplant, dass wir zum Beispiel mit WOL-Circles den Austausch auf Führungsebene pushen. Dieser Austausch der Führungskräfte untereinander ist gerade dann, wenn jeder im Homeoffice sitzt, sehr schwierig. Deshalb müssen wir da erst noch neue Formate schaffen.

Wie sieht es mit der Geschäftsführung und dem Topmanagement in Sachen Offenheit für agile Methoden aus?

Gerade sind wir in einer sehr speziellen Situation und das läuft top-down. Das geht auch nicht anders. In herausfordernden Zeiten nutzen wir das, was wir gewohnt sind und von dem wir wissen, wie und dass es funktioniert. Dinge werden in einem zentralen Krisenstab entschieden und die Informationen rieseln dann durch die Hierarchie durch. Das läuft im Moment sehr gut.

Das operative Geschäft, also das, was wir tun, können wir im Homeoffice ein Stück weit verändern. Aber die strategische Ebene, das, wie wir etwas tun, ist eine andere Dimension. Und beide Dimensionen gleichzeitig anzugehen, würde die Organisation überfordern. Für eine neue Form des Arbeitens auf der „Wie-Ebene“ müssen wir in ruhigen Zeiten beginnen und diese erproben, bevor wir auf harter See sind. 

Warum kann positives Denken nun gefragt sein? 

Neulich hat ein Kollege in einem Workshop gesagt: „Lass uns sehen, was wir aus dieser Situation in Bezug auf Arbeitsweisen lernen und für die weitere Zukunft nutzen können“. Wir erleben einen starken sozialen Zusammenhalt. Das hat auch etwas damit zu tun, dass wir nun die Kollegen im Homeoffice stärker als ganze Person wahrnehmen. Man sieht, wie sie ihre Wohnung einrichten, mit wem sie zusammenwohnen und was sie sonst privat treiben. Da merkt man, auch die Kollegen und Chefs sind nur Menschen. Ich erlebe zudem eine große Bereitschaft, anderen zu helfen – im Betrieb und darüber hinaus.

Vielleicht bleiben ein paar Ansätze und Arbeitsweisen auch in der Zukunft noch relevant.
Martin Kompan, Dr. Oetker

Wie schätzen Sie die Lage ein: Was wird am Ende, nachdem die Ausgangsbeschränkungen wieder aufgehoben sind, von diesem Großexperiment Homeoffice bleiben?

Vieles wird davon abhängen, welche guten Erfahrungen wir mit Homeoffice und Remote Work machen werden. Wir hoffen, dass dann der Erkenntnisprozess bei Führungskräften einsetzt und sie sagen, ich konnte die Mitarbeiter zwar nicht kontrollieren, aber es hat trotzdem funktioniert. Bei diesem Verständnis versuchen wir mit unseren HR-Kollegen zu helfen und dazu beizutragen, dass die neue Arbeitsweise gelebte Praxis wird. Wenn das alles nicht zur Normalität wird, schlägt die Gewohnheit schnell zurück.

Vielleicht bleiben ein paar Ansätze und Arbeitsweisen auch in der Zukunft noch relevant. Das wäre wie beim Internet: Früher mussten wir uns mit dem Modem einwählen, heute ist es immer da. Auch der Achtstundentag ist nicht gottgegeben, sondern hat sich vor etwa 100 Jahren durch Vereinbarungen von Menschen entwickelt. Vielleicht sind wir es irgendwann gewohnt, einfach flexibel und adäquat auf veränderte Rahmenbedingungen zu reagieren und dann wäre New Work selbstverständlich. Wenn wir das in den nächsten Wochen üben, könnten wir einen Teil davon in die Zukunft retten.