Business Transformation Change Management

Kurskorrektur: Wie Umweltschutz Unternehmen innovativ und erfolgreich machen kann

Analyse In dem Buch “Mid-Course Correction” von 1998 berichtet Ray Anderson, warum er sich mitsamt seinem Unternehmen Interface, einem internationalen Teppichhersteller, dem „Purpose“ Nachhaltigkeit verschrieb. In einer erweiterten Neuauflage dreht sein Enkel John Lanier die Vision noch einen Schritt weiter.

Welcher Weg ist der richtige? Interface hat sich für Nachhaltigkeit entschieden. Mit Erfolg.   Foto von James Wheeler von Pexels
Welcher Weg ist der richtige? Interface hat sich für Nachhaltigkeit entschieden. Mit Erfolg. Foto von James Wheeler von Pexels

Auf einmal ist alles anders

Es war einmal ein Industrieller, der vor allem den finanziellen Erfolg seines Unternehmens im Sinn hatte. Die Kunden des internationalen Bodenbelag-Herstellers fragten jedoch immer häufiger nach der Umweltverträglichkeit der Produkte. Eine Task Force sollte es richten und der 60-Jährige ihr eine Vision einhauchen. Zögerlich ging er ans Werk. Zufällig fiel ihm das Buch „The Ecology of Commerce“ von Paul Hawken in die Hände und die Lektüre änderte sich alles: Künftig würde er sein ganzes Geschäft neu denken und sich dem Credo „Erfolgreich sein, indem man Gutes tut“ verschreiben. Interface, so der Name seines Teppichreichs mit Hauptsitz in Georgia (USA), sollte zu einem der nachhaltigsten Unternehmen weltweit werden. Die Geschichte von Ray Anderson hört sich an wie ein amerikanisches Märchen, ist jedoch ein Paradebeispiel dafür, wie der vieldiskutierte Purpose-Ansatz funktioniert.

Die Geschichte Ray Andersons ist ein Paradebeispiel dafür, wie der vieldiskutierte Purpose-Ansatz funktioniert.

Der Interface-Gründer, der 2011 an Krebs starb, hat seine Story bereits 1998 in dem Buch „Mid-Course Correction“ erzählt. Er erinnert sich, wie ein NASA-Wissenschaftler von Apollo 11, der ersten bemannten Mond-Expedition, berichtet: Das Raumschiff sei zu 90 Prozent der Zeit vom Kurs abgekommen. Erst Korrekturen während der Fahrt ermöglichten es, den Mond zu erreichen. „Die Erde – nein, die Menschheit – ist vom Kurs abgekommen und benötigt dringend eine Kurskorrektur“, war Anderson im Zuge des Klimawandels überzeugt. Mehr als zwanzig Jahre später ist nun eine erweiterte Neuauflage aus der Feder seines Enkels John Lanier erschienen. Das Erstaunliche dabei: Das Thema hat nichts an Aktualität eingebüßt.

Kulturveränderung ist eine Lernreise

In Andersons Vision, Interface zur Nummer eins unter den ökologischen Industrieunternehmen zu machen, war Nachhaltigkeit nur ein Zwischenschritt: Die eigentliche Mission bestand für ihn darin, „restorative“ zu werden, der Umwelt nicht nur keinen Schaden zuzufügen, sondern ihr sogar etwas zurückzugeben. Müll und schädliche Stoffe reduzieren, Material recyceln, die besten Praktiken übernehmen, weiterentwickeln und mit Lieferanten und Netzwerkpartnern teilen – der Umweltpionier sprach von „EcoSense“, später von „Mission Zero“. Dabei kamen zum Ziel null Müll und null schädliche Emissionen etwa noch der Vorsatz hinzu, Menschen und Produkte so effizient wie möglich zu transportieren.

Von Anfang an war dem Unternehmer bewusst, dass die Mitarbeiter diejenigen sind, die seine Vision auf die Straße bringen. Kulturveränderung und die Entwicklung passender Kennzahlen gingen Hand in Hand.

Von Anfang an war dem Unternehmer bewusst, dass die Mitarbeiter diejenigen sind, die seine Vision auf die Straße bringen. Kulturveränderung und die Entwicklung passender Kennzahlen gingen Hand in Hand. Das Unternehmen entwickelte eigene „EcoMetrics“, die darauf basieren, was der Amerikaner „Gottes Währung“ nennt: eine Art Entscheidungshilfe jenseits des Geldes, mit der Mitarbeiter Dilemmata lösen können. Wenn etwa ein Produkt weniger nicht erneuerbare Ressourcen benötigt als ein anderes, dafür aber einen Zusatzstoff, der sich zu einem tödlichen Gift entwickeln könnte – was schadet der Umwelt mehr? Interface hat solche Maßstäbe für Faktoren wie Giftmüll, Dioxinpotenzial, Verbrauch von Grundwasser, Kohlendioxidemissionen, Zerstörung von Lebensräumen oder Erschöpfung nicht erneuerbarer Ressourcen entwickelt. Hinzu kam eine neue Form des Qualitätsmanagements (QUEST, ein Akronym für Quality Utilizing Employees' Suggestions and Teamwork).

Dieses Framework erleichterte den Beschäftigten das Verständnis, dennoch sahen nicht alle sofort Nachhaltigkeit als Chance. Die Kulturveränderung kam nicht ohne ein neues Belohnungssystem für Umweltziele wie Abfallreduzierung aus. Wären die Mitarbeiter auch ohne diese Anreize genügend oder sogar mehr intrinsisch motiviert gewesen? Anderson ließ jedenfalls nichts unversucht, dass Mitarbeiter ihre eigenen Ziele, ressourceneffizient zu arbeiten, mit dem Unternehmensziel in Einklang bringen konnten. Ständige Lernbereitschaft forderte er nicht nur im eigenen Betrieb. Die Initiative OWL (One World Learning) öffnete Anderson auch für andere Unternehmen. Das Lernprogramm mit Namen „Why“ basiert auf erfahrungsorientiertes Lernen, Teambuilding und persönlicher Wertefindung.

Exemplarisch veranschaulicht diese Lernreise das weltweite Sales Meeting von Interface im Jahr 1997, das in einem Luxushotel auf Hawaii stattfand – und deshalb fast am internen Protest scheiterte. Interface machte jedoch aus der Not eine Tugend: Das Event mutierte zum Global Village, in dem 11.000 Teilnehmer gemeinsam mit Einheimischen Umweltmaßnahmen für nachhaltigen Tourismus erarbeiteten. Dieses Engagement sollte zum Startschuss für Andersons politisches Engagement werden, etwa als Co-Vorsitzender des Präsidentenrats für nachhaltige Entwicklung oder als Vordenker eines Klimaaktionsplans des Präsidenten, der der Obama-Regierung vorgelegt wurde.

Kurskorrektur 2.0: Wie wir den Umweltkollaps umgehen

Die 2019 erschienene Neuauflage des Buchklassikers ist mehr als ein Update von Zahlen und Fakten. Andersons Enkel John Lanier, Geschäftsführer der Ray C. Anderson Stiftung, hat einige Kapitel hinzugefügt, die Interviews mit Topmanagern und Wegbegleitern des Unternehmens enthalten – darunter etwa der Umweltaktivist und ursprüngliche Impulsgeber für Anderson, Paul Hawken, oder der derzeitige CEO Jay Gould.

Vieles, was heute hierzulande unter dem Label „Agilität“ firmiert, kennzeichnete auch die Kulturveränderung von Interface. Selbstorganisierte Teams etwa gelten als unabdingbar, um schnell genug neue Technologien zu erfinden, die die Erderwärmung aufhalten könnten.

Im Sinne seines Großvaters geht es in dem Unternehmen heute nicht nur um Schadstoffreduzierung, sondern insbesondere um die Entwicklung völlig neuer Technologien. Schon zu Andersons Lebzeiten zeigte sich die Innovationskraft, die Nachhaltigkeit freisetzen kann: Interface erweiterte sein Portfolio modularer Büroteppiche um Teppichleasing. Dabei gehört der Bodenbelag weiterhin dem Hersteller, verkauft wird der Service darum herum: Nutzung, Reinigung, Instandhaltung, Erneuerung. Heute arbeitet das Unternehmen an einer Technik, die CO2 in einen Rohstoff zur Teppichherstellung verwandeln könnte – dank Biomimicry, Nachahmung der Natur. Eine neu gegründete Non-profit-Organisation namens „The Ray“ forscht an der Herstellung von nachhaltigen Autobahnen. Vieles, was heute hierzulande unter dem Label „Agilität“ firmiert, kennzeichnete auch die Kulturveränderung von Interface. Selbstorganisierte Teams etwa sieht Lanier als unabdingbar, um schnell genug neue Technologien zu erfinden, die die Erderwärmung aufhalten könnten.

Die Lösungen von Interface sind nicht durchgängig überzeugend. Manche erwähnten Nachhaltigkeitsinstrumente in HR sind zumindest diskussionswürdig. Dennoch ist das Vorgehen wegweisend.

Die Lösungen von Interface sind zwar nicht durchgängig überzeugend. Manche erwähnten Nachhaltigkeitsinstrumente in HR sind zumindest diskussionswürdig, wie etwa die Kombination von intrinsischer Motivation durch die persönliche Entdeckung des Umwelt-Why mit klassischem Performance Management (Boni für Erreichung von Umweltzielen). Auch die Meinung, dass der Purpose eines Unternehmens immer über der persönlichen Leidenschaft für den Job stehen sollte, könnte Skepsis im New-Work-Lager hervorrufen. Da es bisher jedoch kaum Praxisbeispiele zum Thema „Grünes Personalmanagement“ gibt, ist das Vorgehen dennoch wegweisend.

Neue Vision: Nachhaltigkeit ohne Wachstum

Lesenswert ist die Neufassung von „Mid-Course Correction“ auch wegen eines Gedankenexperiments des Anderson-Erben: Der Jurist überträgt den Purpose-Ansatz gleich auf unser gesamtes Wirtschaftssystem. Dieses erhöhe die Lebensqualität der Menschen, allerdings auf Kosten der natürlichen Ressourcen. Wenn diese irgendwann zur Neige gehen, könne unseres auf Wachstum fußenden System zusammenbrechen – eine Katastrophe für die Menschheit. Er zeichnet angesichts dieses Risikos drei Zukunftsszenarien:  

  1. Business as usual

Derzeit gingen viele Wirtschaftsvertreter davon aus, dass die Marktkräfte vor einem Kollaps schützen. Alles lasse sich ersetzen: Erneuerbare Energien verbreiteten sich, wenn fossile an ihre Grenzen stoßen und immer teurer werden. Unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem verfüge über einen eleganten Selbstkorrekturmechanismus, so die Argumentation. Lanier wiegt dies nicht in Sicherheit. Der Preis fossiler Brennstoffe spiegle nicht die wahren Kosten wider – der Markt sorge eher dafür, dass sie nie ausgehen. Folgeleistungen des Ökosystem aufgrund von Umweltschäden sind dem Autor zufolge extrem schwer zu bepreisen, selbst wenn man es versuchen würde. Und möglicherweise gebe es nicht für alle Rohstoffe einen Ersatz. Angesichts von „Business as usual“ bleibe der Crash wahrscheinlich.

  1. Nachhaltigkeit mit unendlichem Wachstumspotenzial

Eine andere Möglichkeit könnte eine neue Form des Wachstums sein, das nur erneuerbare oder bereits in unserer Wirtschaft bzw. in den Abfallströmen genutztes Kapital verwenden würde. Eine solche Verlagerung hätte massive Veränderungen in Technologie und Geschäftspraktiken zur Folge. Der Unterschied zu Szenario 1: Die Treiber wären andere – etwa Konsumentenverhalten, kulturelle Veränderungen in den Unternehmen oder neue Gesetze. Ein hohes Risiko bleibt: Dies würde nicht das Problem lösen, dass manche Ressourcen begrenzt verfügbar sind. Menschliche Produktivität wäre die Grundlage für Wachstum. Wir bräuchten immer mehr Menschen, mehr Effektivität oder ständig zunehmende Innovationskraft. Wachstum bliebe die entscheidende Größe und Schwäche.

  1. Eine Wirtschaft, sie sich von Wachstum löst

Laniers Vision ist ein neues Ziel für die Wirtschaft: Wohlstand, der kein Selbstzweck ist, sondern menschliches Glück fördert. Sobald sich die Wirtschaft und die Industrie voll und ganz der Nachhaltigkeit verschrieben hätten, wäre der einzige negative Einfluss auf die Umwelt das Wirtschaftswachstum, das nicht den Menschen nutzt. Wie der Weg dahin aussehen könnte, hält der Anderson-Enkel allerdings offen. Ihm geht es um eine neue Ausrichtung. Würden wir das Ziel eines Schachspiels neu definieren, so Laniers Idee, etwa indem nicht mehr der König des Gegners zu erobern sei, sondern dessen Türme – es käme ein ganz neues Spiel dabei heraus.

Mid-Course Correction Revisited
The Story and Legacy of a Radical Industrialist and his Quest for Authentic Change
Autoren: John A. Lanier, Ray C. Anderson
Auf Englisch, Chelsea Green Publishing 2019, 288 Seiten
ISBN: 9781603588898
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Die Stimmen möglicher Kritiker klingen dem Autor wohl schon im Ohr. Er beteuert, keine Revolution zu planen, sondern an eine Evolution der Wirtschaft zu glauben. Skepsis und Gegenwind hat auch Ray Anderson immer wieder erlebt – intern wie extern. Gegen alle Widerstände hat er mit seiner Persönlichkeit und gutem Storytelling überzeugt. Wird es seinem Enkel ähnlich ergehen? Mit „Mid-Course Correction revisited“ übersetzt er die Dringlichkeit einer Kurskorrektur in die heutige Zeit. Wer von dem Buch eine Anleitung für grüne Unternehmensführung erwartet, wird vielleicht enttäuscht – trotz einer Checkliste mit Tipps für alle Stakeholder eines Unternehmens im Anhang, die Interface 1998 entwickelte (stattdessen sei dafür der Interface-Leitfaden „Lektionen für die Zukunft“ empfohlen, der wichtige Schritte auf dem Weg zu echter Nachhaltigkeit zusammenfasst). Das Buch ist vielmehr ein Weckruf an Unternehmer und Personalverantwortliche, Umweltschutz nicht auf die lange Bank zu schieben – nicht nur, weil es ihre Organisationen erfolgreicher macht, sondern auch, weil sie es den nachfolgenden Generationen schuldig sind.

Mid-Course Correction Revisited.
The Story and Legacy of a Radical Industrialist and his Quest for Authentic Change
Autoren: John A. Lanier, Ray C. Anderson
Auf Englisch, Chelsea Green Publishing 2019, 288 Seiten
ISBN: 9781603588898