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„Wir sind Geiseln einer tief verwurzelten Einstellung“

Interview Was ist „Performance that matters“ und wie kann man sie entfesseln? Das war die zentrale Frage des Peter Drucker Forums 2022. Im Versuch, Leistung zu kontrollieren, steigern Unternehmen oft nur ihre Bürokratie, meint der Managementvordenker Gary Hamel.

"Menschen treten in Institutionen ein, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aber auch, um etwas in der Welt zu bewirken. Die Institution ist das Instrument, nicht der Mitarbeiter." Gary Hamel Fotos: Global Peter Drucker Forum
"Menschen treten in Institutionen ein, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aber auch, um etwas in der Welt zu bewirken. Die Institution ist das Instrument, nicht der Mitarbeiter." Gary Hamel Fotos: Global Peter Drucker Forum

Woher kommt die Leistung?

Gary, lassen Sie uns über Leistung sprechen. Wird Performance gerade wieder wichtiger, in Zeiten, in denen wir mit vielfältigen Krisen zu kämpfen haben?

Eine der Fragen, die jede Generation von Management-Denkern beschäftigt hat, lautet: Woher kommt die Leistung? Es gibt viele Untersuchungen zu diesem Thema, aber niemand hat eine eindeutige und präzise Antwort. Egal, ob es um Rentabilität, Wachstum oder Innovation geht, es ist schwierig, Erfolg auf ein oder zwei Faktoren zu reduzieren. Die Leistung hängt von Dutzenden, vielleicht Hunderten von Faktoren ab. Daher legen Unternehmen Hunderte, oft sogar Tausende von KPIs fest. Aber so kontraintuitiv es auch erscheinen mag: Je komplexer das Problem ist, das Sie zu lösen versuchen, desto weniger KPIs sollte ein Unternehmen haben. Das gilt auch für die Maximierung der Leistung. Man kann Erfolg nicht von oben nach unten steuern. Sie müssen den Mitarbeitenden einige grobe Ziele in Bezug auf Rentabilität, Wachstum und Kundenzufriedenheit vorgeben. Und darauf vertrauen, dass sie die vielen subtilen Kompromisse eingehen, die notwendig sind, um ein optimales Ergebnis zu erzielen.

Je komplexer das Problem ist, das Sie zu lösen versuchen, desto weniger KPIs sollte ein Unternehmen haben. Das gilt auch für die Maximierung der Leistung.

In der Praxis lässt sich aber eher etwas anderes beobachten…

Je vielfältiger und unsicherer das Umfeld wird und je mehr diese Komplexität die kognitiven Grenzen der Führungsebene übersteigt, desto mehr versuchen die Führungskräfte leider, das Verhalten von oben zu steuern. Sie glauben, dass sich der Erfolg einstellen wird, wenn sie nur dafür sorgen, dass sich alle an das Drehbuch halten. Aber das funktioniert nicht.

Selbstwirksamkeit ist der Schlüssel 

Und was treibt Ihrer Ansicht nach Leistung wirklich an?

Wenn man sich die gesamte Forschung ansieht, sticht ein Faktor hervor, bei dem die Korrelation mit der Leistung stark genug ist, um uns eine eindeutige Aussage zu ermöglichen: Mehr als alles andere hängt die Leistung von der Bereitschaft der Mitarbeitenden ab, ihre Phantasie und ihren Einfallsreichtum bei der Arbeit einzubringen. Forscher finden immer wieder einen signifikanten Zusammenhang zwischen Leistung, Wachstum und Rentabilität und der Art und Weise, wie ein Unternehmen seine Mitarbeitenden behandelt.

Wie sollten Menschen behandelt werden, damit sie ihre volle Leistung bringen?

Die Beschäftigten wollen drei Dinge: erstens Würde. Sie wollen glauben, dass ihre Arbeit für das Unternehmen, die Kunden und die Gesellschaft von Bedeutung ist. Zweitens wollen sie die Möglichkeit haben, etwas zu erreichen und zu wachsen. Sie wollen lernen, Fortschritte machen und sich interessanten Herausforderungen stellen. Und drittens: Gerechtigkeit. Sie wollen wissen, dass die Belohnungen für ihren Erfolg gerecht verteilt werden, und zwar auf der Grundlage ihres Beitrags und nicht auf der Grundlage von Rang oder Betriebszughörigkeit.

Beschäftigte wollen drei Dinge. Erstens Würde. Zweitens die Möglichkeit, etwas zu erreichen und zu wachsen. Und drittens: Gerechtigkeit.

Wenn man den Analysen von Gallup & Co. Glauben schenkt, hat sich über die Jahre wenig verändert. Sind wir schon am oberen Ende der Leistungsmöglichkeiten angekommen?

Das glaube ich nicht. Etwa 80 Prozent der Beschäftigten sind nicht voll engagiert, aber 20 Prozent schon. Wir können also von jenen leistungsstarken Unternehmen lernen, in denen sich die Mitarbeitenden als Eigentümer fühlen und als entscheidend für den Erfolg angesehen werden. Dies zeigt sich zum Beispiel in Unternehmen wie Haier, Nucor, Roche oder Handelsbanken. Dort gibt es weniger als die Hälfte der Managementebenen, die in den meisten großen Unternehmen üblich sind – zwei oder drei Ebenen statt sieben oder acht. Freunde haben mir erzählt, dass Google neun Ebenen in seiner technischen Organisation hat. Wenn die Macht durch all diese Ebenen sickern muss, bleibt nur wenig übrig, um sie mit den Mitarbeitenden um unteren Ende zu teilen. Das ist ein Problem, denn es ist vor allem die Autonomie, die das Engagement der Mitarbeitenden fördert.

Mitarbeitende sind keine Mittel zum Zweck

Hinzu kommt: Wenn es darum geht, Geld zu verdienen, werden die Mitarbeitenden als "Ressourcen" und Werkzeuge betrachtet. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass eine Beziehung, in der man als Werkzeug behandelt wird, toxisch ist – und die meisten Beschäftigten haben eine toxische Beziehung zu ihrem Arbeitgeber.

Viele Organisationen proklamieren aber für sich, dass bei Ihnen die Mitarbeitenden im Mittelpunkt stehen. Ist das nur Marketing?

Das Top-down-Arbeitsmodell, bei dem Manager im Vordergrund stehen, ist so tief in unsere Organisation eingesickert, dass die meisten von uns es als selbstverständlich ansehen. Wir sind Geiseln einer tief verwurzelten Einstellung, die wir aus dem Industriezeitalter übernommen haben. Wir glauben, dass die Denker an der Spitze stehen und die Macher am unteren Ende – und das spiegelt sich in den Vergütungsstrukturen wider. Es ist ein Kastensystem. Vor einem Jahrzehnt sprach die Elite noch von der Arbeiterklasse. Jetzt sprechen sie über die ungebildeten oder gering qualifizierten Arbeitenden. Aber Zeugnisse sind oft ein schlechter Gradmesser für Fähigkeiten. Und kein Job ist von Natur aus gering qualifiziert. Aber es gibt Millionen von Arbeitsplätzen, die ohne Würde, Chancen und Gerechtigkeit sind.

Wenn es darum geht, Geld zu verdienen, werden die Mitarbeitenden als "Ressourcen" und Werkzeuge betrachtet. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass eine Beziehung, in der man als Werkzeug behandelt wird, toxisch ist.

Vor zwei Jahren wurde eine Umfrage unter 30.000 europäischen Unternehmen durchgeführt. Nur 25 Prozent der teilnehmenden Manager gaben an, dass sie der Meinung sind, dass die Beschäftigten an der Basis entscheidend für den Erfolg sind. Nur ein Viertel! Viele Beschäftigte haben gelernt, dass es aussichtslos ist, bei der Arbeit nach einer größeren Rolle oder einer erfüllenderen Aufgabe zu streben. Also lassen sie das meiste an Initiative und Einfallsreichtum zu Hause. Die Daten sind ziemlich eindeutig: Die meisten Unternehmen verschwenden mehr menschliche Kapazitäten, als sie effektiv nutzen.

Wie könnte man das Ihrer Meinung nach verändern und die Mitarbeitenden stärker zu echten Leistungsträgerinnen und Leistungsträgern machen?

Wir müssen das umkehren: Menschen treten in Institutionen ein, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, aber auch, um etwas in der Welt zu bewirken. In dieser Denkweise ist die Institution das Instrument, nicht der Mitarbeitende. Das scheint eine subtile Veränderung zu sein, aber wenn man sie in die Praxis umsetzt, ist sie enorm. Es bedeutet, dass man niemanden als entbehrlich ansieht, dass man jeden Mitarbeitenden schult, allen einen echten Vorteil verschafft und jedem Beschäftigten beibringt, „businesslike“ zu denken. Alle Beschäftigten sollte wissen, was eine Gewinn- und Verlustrechnung ist, und verstehen, was ROI und Kundenbindung ausmacht. Meiner Meinung nach ist eines der besten Dinge, die ein Unternehmen tun kann, das gesamte Budget für die Entwicklung von Führungskräften zu nehmen und es auf die Schulung von Mitarbeitenden in der grundlegenden Sprache des Geschäftslebens zu stecken.

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"Die meisten Führungskräfte sind nicht bereit, sich auf eine Reise zu begeben, bei der man das Ende nicht von Anfang kennt." Gary Hamel 

Mehr Aufmerksamkeit für Mitarbeitende

Aber auch bei den Führungskräften gibt es ja durchaus noch Entwicklungsbedarf, oder?

Natürlich. Wir sollten Führungskräfte darin schulen, eine systemische Sichtweise einzunehmen. Eine der größten Herausforderungen fürs Top-Management besteht heute darin, sich Organisationen vorzustellen, die sich grundlegend von denen unterscheiden, in denen sie sich gerade befinden. Ich frage CEOs oft: „Können Sie sich eine Organisation vorstellen, die sich in Bezug auf Strukturen und Prozesse so sehr vom Status quo unterscheidet, wie YouTube von der BBC oder PayPal von einem Scheckbuch?“ Die meisten CEOs haben die Auswirkungen radikaler Geschäftsmodellinnovationen gesehen, aber jetzt müssen sie sich auch für radikale Veränderungen des Managementmodells öffnen. Sonst werden sie weder das Engagement verbessern noch Organisationen aufbauen können, die grundlegend mutiger, widerstandsfähiger und innovativer sind, als dies derzeit der Fall ist.

Eine der größten Herausforderungen fürs Top-Management besteht heute darin, sich Organisationen vorzustellen, die sich grundlegend von denen unterscheiden, in denen sie sich gerade befinden.

Eines der interessantesten Gespräche, die ich mit einem CEO geführt habe, war das mit Zhang Ruimin von Haier. Er besuchte mich im Jahr 2011 in Kalifornien. Er sagte: „Gary, Sie haben argumentiert, dass Organisationen mehr wie Plattformen und weniger wie Hierarchien werden müssen. Hat das jemand tatsächlich getan?“ Ich sagte: „Ich glaube nicht.“ Mit einem sehr entschlossenen Blick in den Augen sagte er: „Ich möchte ein Unternehmen aufbauen, in dem jeder die Chance hat, CEO zu werden, denn die Menschen sind kein Mittel, sie sind ein Ziel an sich.“ Hier zitiert ein CEO Immanuel Kant und den kategorischen Imperativ, der im Zentrum der Aufklärung stand. Die Idee, dass jeder Mensch in sich selbst eine Würde hat. Dies ist ein guter Ausgangspunkt, wenn Sie eine Organisation aufbauen wollen, die die Erwartungen übertreffen kann.

Dem Management fehlt der Mut

Aber abgesehen von diesen Ausnahmepersönlichkeiten sind die CEOS und Top-Führungskräfte Ihrer Ansicht nach in ihren Ideen und Visionen nicht mutig genug?

Ja! Schauen Sie sich doch die Automobilbranche an. Mercedes, BMW und Volkswagen sind bei der Entwicklung von Elektrofahrzeugen mindestens zehn Jahre hinter Tesla zurück. Dabei ist schon seit Jahren klar, dass wir die CO2-Emissionen reduzieren müssen, dass die Batterien immer besser werden und dass die Grafikprozessoren immer leistungsfähiger werden, so dass selbstfahrende Autos eine reale Möglichkeit darstellen. Ich bin mir sicher, dass es viele Leute bei den alten Automobilherstellern gab, die diese Veränderungen vorhergesehen haben. Aber in einer Bürokratie bewegt sich niemand, bis der CEO den Befehl dazu gibt. Allein: Wenn ein Problem oder eine Gelegenheit groß genug ist, um die Aufmerksamkeit des CEO zu erregen, ist es bereits zu spät.

Haben Top-Führungskräfte ihre Gehälter verdient?

Ich glaube nicht, dass es eine Studie gibt, die beweist, dass CEOs das Geld wert sind, das ihnen gezahlt wird – zumindest nicht in allen Bereichen. In einer der jüngsten Studien wurde sogar eine negative Korrelation zwischen der Vergütung von CEOs und ihrer Leistung festgestellt. Ich finde es sehr schwer zu argumentieren, dass ein CEO das 400- oder 500-fache eines normalen Angestellten verdienen sollte – es sei denn, er ist ein Gründer und seine Vergütung basiert ausschließlich auf der Steigerung des Marktwerts, wie es bei Elon Musk bei Tesla der Fall ist. Im vergangenen Jahr verdiente Andy Jassy bei Amazon das Sechseinhalbtausendfache des Durchschnittseinkommens eines Amazon-Mitarbeitenden. Wie kann man den Beschäftigten vermitteln, dass sie für den Erfolg entscheidend sind, wenn es diese Art von Gehaltsunterschieden gibt?

Wenn ein Problem oder eine Gelegenheit groß genug ist, um die Aufmerksamkeit des CEO zu erregen, ist es bereits zu spät.

Welche Veränderungen im Vergütungssystem würden Sie vorschlagen?

Ich verstehe die Logik, die Vergütung an die Entwicklung des Aktienkurses zu koppeln, aber in der Praxis hat dies nicht sehr gut funktioniert. Die Logik wurde auf eine sehr einfache Weise umgesetzt. Es gibt keinen Beweis dafür, dass CEOs besser darin geworden sind, neue Fähigkeiten aufzubauen, neue Märkte zu schaffen oder das Engagement zu erhöhen. Was sie besser können, ist den Aktienkurs zu manipulieren – am einfachsten durch Aktienrückkäufe. Wir sollten die Vergütung auf mittel- bis langfristige Veränderungen des Unternehmenswerts stützen, bereinigt um Fusionen und Übernahmen, um makroökonomische Zyklen und im Verhältnis zur Leistung von Branchenkollegen. In diesem Modell erhält ein CEO nur dann eine hohe Vergütung, wenn er oder sie den Marktwert des Unternehmens auf einer rollierenden Drei- oder Fünfjahresbasis deutlich schneller gesteigert hat als die Konkurrenten.

Menschzentriert – darum geht es

In Ihrem Buch „Humanocracy“ rechnen Sie vor, dass eine menschenzentrierte Arbeitswelt das Potential biete, die Gewinne in den USA um 3,4 Billionen und global gar um 10 Billionen Dollar jährlich erhöhen. Die globale Produktion könne man damit sogar um 10 Billionen Dollar erhöhen. Wie kommen Sie auf diese Zahlen?

Seit 1983 hat sich die Zahl der Manager und Verwaltungsangestellten in den USA mehr als verdoppelt, während die Zahl der Arbeitsplätze ohne Führungsaufgaben nur um 44 Prozent gestiegen ist. Wir schätzen, dass es 13,45 Millionen Manager und das Äquivalent von 9,5 Millionen Angestellten gibt, die keinen oder nur einen geringen wirtschaftlichen Wert schaffen – die in bürokratischen Aufgaben aufgehen, die unnötig sind. Wenn jeder dieser Menschen statt null einen Beitrag zur Wirtschaft leisten würde – 148.000 Dollar ist das jährliche Pro-Kopf-BIP in den USA – , dann würde das gesamte BIP um mehr als drei Billionen Dollar steigen.

Man muss also diese Zahlen zusammenzählen – die Effizienzgewinne durch die Verringerung der direkten Kosten der „Bürokratie“ und die indirekten Gewinne, die sich daraus ergeben, dass die Mitarbeitenden mehr Möglichkeiten haben, sich einzubringen und innovativ zu sein. Wenn wir in der Lage wären, diese Gewinne zu realisieren, würden wir die lange Talfahrt des Produktivitätswachstums, die wir in der gesamten OECD erlebt haben, schnell umkehren.

Wie kann man diese Rechnung auf einzelne Organisationen übertragen?

Wir haben den Bureaucratic Mass Index, den BMI, eingeführt. Ein einfaches und kostenloses Instrument. Es ermöglicht Organisationen, ihren bürokratischen Widerstand zu messen. Wir stellen Fragen wie: Wie lange dauert es, bis eine Entscheidung getroffen wird? Wie wichtig sind politische Verhaltensweisen für das Vorankommen in Ihrer Organisation? Oder wie viel Zeit verbringen die Manager mit internen und externen Angelegenheiten? Die meisten Kosten der Bürokratie tauchen in der Gewinn- und Verlustrechnung nicht auf – zumindest nicht direkt. Aber die Kosten sind real, und wir müssen sie messen und das Management dafür verantwortlich machen, den BMI ihres Unternehmens zu senken.

Compliance schafft mehr Bürokratie als Regulierung

Bürokratie entsteht auch durch Gesetzgebung. Diese soll zum Beispiel Umweltschäden verhindern oder Menschenrechte schützen. Halten Sie solche Gesetze für unnötig?

Nein, aber Tatsache ist, dass der größte Teil der Bürokratie, die wir in Unternehmen vorfinden, durch interne Compliance-Anforderungen und nicht durch externe Vorgaben bedingt ist. Ich habe mit Führungskräften eines großen Pharmaunternehmens gesprochen und sie sagten, ihre internen Compliance-Vorschriften seien weitaus strenger als alles, was ihnen von der US Food and Drug Administration auferlegt würde.

Tatsache ist, dass der größte Teil der Bürokratie, die wir in Unternehmen vorfinden, durch interne Compliance-Anforderungen und nicht durch externe Vorgaben bedingt ist.

Natürlich möchte niemand Bürokratie. Aber zu einem gewissen Maß sind Regeln und Vorgaben doch notwendig. Sonst muss man Prozesse immer wieder neu aushandeln …

Bürokratie per se braucht man nicht, aber man braucht den Hauptnutzen, den wir mit Bürokratie verbinden: Kontrolle. Ein gewisses Maß an Kontrolle oder Disziplin ist in jeder Organisation wichtig. Aber man kann Kontrolle auch ohne Bürokratie bekommen – ohne Schichten von Managern und ohne erdrückende Regeln. Als Lehrerin ist es nicht die Bürokratie, die mich antreibt, gute Arbeit zu leisten, sondern die Anforderungen meiner Schüler. Ich habe enorme Freiheiten, was und wie ich unterrichte, aber am Ende jedes Semesters werde ich von meinen Schülern bewertet.  Das ist definitiv eine Form der Kontrolle, aber sie ist nicht bürokratisch. Und das ist es, was wir bei den post-bürokratischen Pionieren sehen: Kontrolle, die von Gleichgesinnten ausgeht, von Stolz, von der Transparenz der Ergebnisse und davon, dass man einen finanziellen Anteil an der eigenen Arbeit hat.

Freiraum und Selbstentfaltung

Viele Initiativen von Hierarchieabbau und agilem Arbeiten scheitern, wenn sie nicht den Beweis erbringen, dass sie wirklich besser performen. Warum genügen diese Ansätze nicht?

Agiles Arbeiten ist wichtig, aber wirklich leistungsfördernd ist es, wenn sich jeder wie ein Eigentümer fühlt. Dabei geht es nicht darum, ein paar Aktien zu besitzen, sondern darum, die Freiheit zu haben, wie ein Unternehmer oder eine Unternehmerin zu denken und zu handeln – wie jemand, der oder die das eigene Unternehmen führt. Unternehmertum ist eine Kombination aus Vorstellungskraft, Verantwortlichkeit und Risikobereitschaft. In einem Unternehmen wie Nucor, dem weltweit profitabelsten Stahlunternehmen, verhalten sich alle Mitarbeitenden, einschließlich der Produktionsmitarbeitenden wie Unternehmer. Sie haben ein hohes Maß an Autonomie. Sie können bis zu 50.000 Dollar ausgeben, ohne die Genehmigung eines Managers einzuholen. Die Teams haben die Freiheit, mit neuen Methoden und Werkzeugen zu experimentieren. Und wenn sie die Produktivität ihres Teams steigern, erhalten sie einen direkten finanziellen Anreiz. Aber ich vermute, dass nur sehr, sehr wenige CEOs ihre Angestellten so sehen.

Wirklich leistungsfördernd ist es, wenn sich jeder wie ein Eigentümer fühlt. Dabei geht es nicht darum, ein paar Aktien zu besitzen, sondern darum, die Freiheit zu haben, wie ein Unternehmer oder eine Unternehmerin zu denken und zu handeln

Warum gibt es nur so wenige CEOs, die menschenzentrierte Organisationen aufbauen möchten?

Die meisten Führungskräfte sind nicht bereit, sich auf eine Reise zu begeben, bei der man das Ende nicht von Anfang kennt und für die es keinen klaren Fahrplan gibt. Das Problem ist, dass es keine einfache Methode gibt, um die Bürokratie zu besiegen und eine radikal leistungsfähigere Organisation aufzubauen. Es gibt Grundsätze, die man befolgen kann, und Phasen, die man durchlaufen muss, aber keinen detaillierten Spielplan. Ein CEO kann diese Arbeit nicht an Berater delegieren. Das ist also das erste Problem – die mangelnde Bereitschaft wirklich zu führen.

Sich die Komplexität zu eigen machen

Zweitens haben nur wenige Führungskräfte den Drang oder die Fähigkeiten, komplexe, systemische Probleme anzugehen. Sie suchen nach einem Patentrezept, nach einem sechsmonatigen Projekt, das die Dinge zum Guten wendet. Aber wenn man eine postbürokratische Organisation aufbauen will, muss sich alles ändern – wie wir Führungskräfte entwickeln, wie wir Pläne erstellen, wie wir Entscheidungsrechte zuweisen, wie wir Mitarbeitende befördern, wie wir Ressourcen zuweisen. Organisationen sind ungeheuer komplex, und um sie tiefgreifend zu verändern, muss man sich diese Komplexität zu eigen machen. Viele Vorstandsvorsitzende trauen sich das einfach nicht zu. Sie kaufen lieber mehr Aktien zurück, tätigen eine weitere Übernahme, gliedern einen Geschäftsbereich aus oder betreiben Lobbyarbeit in Brüssel oder Washington.

Der Sprung von der Bürokratie erfordert keine riesigen Kapitalinvestitionen und birgt auch keine großen operativen Risiken. Man muss nur dranbleiben – Prozess für Prozess, Führungskraft für Führungskraft, Regel für Regel.

Und schließlich ist dies ein langer Weg, der Ausdauer erfordert. Viele Führungskräfte schieben ihr Kurzfristdenken auf die Aktionäre, aber das ist nur eine Ausrede. Der Sprung von der Bürokratie erfordert keine riesigen Kapitalinvestitionen und birgt auch keine großen operativen Risiken. Man muss nur dranbleiben – Prozess für Prozess, Führungskraft für Führungskraft, Regel für Regel. Mein Mantra lautet: revolutionäre Ziele, aber evolutionäre Schritte.

Gibt es diesbezüglich auch Lichtblicke am Horizont?

Ich kenne ein Führungsteam, das enorme Fortschritte beim Aufbau einer widerstandsfähigeren Organisation gemacht hat. Zu diesem Zweck hat sich das oberste Führungsteam in den letzten fünf Jahren jede Woche einen ganzen Tag lang getroffen, um die notwendigen Veränderungen zu planen und zu unterstützen. Und diese Führungskräfte glauben nicht, dass ihre Aufgabe jemals erledigt sein wird. Sie haben verstanden, dass ihre Hauptaufgabe nicht darin besteht, das Unternehmen zu führen – das können andere tun. Ihre Hauptaufgabe ist es, die Art und Weise, wie das Unternehmen läuft, zu verändern – und zwar so, dass es zukunftsfähig und menschengerecht wird.